Ratzinger - © APA / dpa / Hartmut Reeh

Ratzinger und das Missbrauchsgutachten: Beton, nicht Fels der Kirche

19451960198020002020

Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. und das am 20. Jänner präsentierte Gutachten über Missbrauch in der Erzdiözese München und Freising zwischen 1945 und 2019. Einer Tragödie nächster Akt.

19451960198020002020

Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. und das am 20. Jänner präsentierte Gutachten über Missbrauch in der Erzdiözese München und Freising zwischen 1945 und 2019. Einer Tragödie nächster Akt.

Werbung
Werbung
Werbung

Was für eine Ironie: Als am vergangenen Donnerstag das Gutachten der Kanzlei Westpfahl, Spilker und Wastl „Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 bis 2019“ der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, blieb der Platz des Erzbischofs von München frei: eine Sedisvakanz der Verantwortung. Dafür betrat Hans Küng unversehens die Bühne.

Wie der Geist von Hamlets Vater überführte er den emeritierten Papst Benedikt XVI. Nun ist der vor einem Jahr verstorbene Küng nicht von seinem ehemaligen Tübinger Kollegen beseitigt worden, wohl aber die Wahrheit, die Ratzinger in seinem Wappen als Erzbischof von München trug: Cooperator veritatis – Mitarbeiter der Wahrheit. Den Münchner Anwälten hatte der Papa emeritus ausrichten lassen, dass er nicht an jener Sitzung teilgenommen habe, in der die Aufnahme des Priesters X, eines überführten Sexualstraftäters, in seine Erzdiözese beschlossen wurde.

Sedisvakanz der Verantwortung

Das Protokoll dieser Sitzung vom 15. 1. 1980, das den greisen Ex-Papst mit dem selbstbestätigt guten Langzeitgedächtnis einer Falschaussage überführt, bezieht sich auf ein Gespräch, von dem Ratzinger ausgerechnet in der Causa Küng berichtet hat. Im Hinter­grund stand u. a. Küngs Bestreitung jener Unfehlbarkeit, die die katholische Kirche ihren Päpsten zurechnet. Den Ausgang des Stücks kennt man: Küng durfte nie wieder in seiner Kirche lehren, Joseph Ratzinger wurde ihr Papst: „der wahre Stellvertreter Christi, das Haupt der ganzen Kirche und der Vater und Lehrer aller Christen“, wie es das I. Vatikanum festhält.

Navigator

Liebe Leserin, lieber Leser,

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.

Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.

Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

Zwar war Ratzinger 1980 kein Papst, und es ging auf der fraglichen Sitzung auch nicht um die dogmatische „Entscheidung einer Glaubens- oder Sittenlehre“. Aber das Drama, das die katholische Kirche in Deutschland seit zwölf Jahren und weltweit schon so viel länger aufführt, nimmt in dieser Konstellation symbolische Züge an, gerade weil sie Fragen von Glauben und Sitten betrifft. Längst hat sich die Kirche in einem schier unauflösbaren Labyrinth von Lügen verstrickt, das mit jedem Aufklärungsschritt nur tiefer in den Abgrund führt. Die seriellen Betroffenheitsbekundungen von Bischöfen verfangen nicht mehr, weil sich trotz aller kirchlichen Schritte, die in Richtung Aufarbeitung und Prävention gesetzt wurden, die Beharrungslogik im System als übermächtig erweist.

Persönliche Verantwortungsübernahme? Marx hat dem Papst im Sommer 2021 seinen Rücktritt angeboten. Der wollte ihn nicht annehmen – genau das spricht Bände. Die Kirche diktiert das Gewissen. Wobei man sich auch da fragt, warum nicht schon längst jeder Fall von jedem verantwortlichen Bischof offengelegt wurde. Zum Eingeständnis von Schuld ringen sich die Verantwortlichen in der Kirche durch, wenn sie sich ins Grundsätzliche delegieren lässt oder es kein Entkommen vor den Tatsachen mehr gibt.

So auch Joseph Ratzinger/Bene­dikt XVI. Es mag sein, dass er nicht absichtlich gelogen hat, wie er in seiner nachgereichten Stellungnahme beteuert. Aber das nachträgliche Eingeständnis, halbherzig genug, weil es am Ende in der Sitzung doch nicht um Entscheidendes gegangen sei, wiegt nur umso schwerer. Denn man muss sich fragen, wieso er vorab so sicher sein konnte, keinen Fehler gemacht zu haben. Das Überschreiben von Erinnerungen ist ein psychologisch bekanntes Phänomen. Es funktio­niert in diesem Fall, weil die katholische Kirche ihr Bleiben in der Wahrheit immer schon voraussetzt. Notfalls wird passend gemacht, was nicht passt. Seien es abweichende Theologen, seien es Fakten.

Nicht fähig zur Selbstkorrektur

Als Kardinal Gerhard Ludwig Müller, ein Nachfolger Ratzingers als Präfekt der Glaubenskongregation, am Tag nach den Münchner Ereignissen zum Gutachten und zur Rolle von Benedikt XVI. befragt wurde, sagte er: „Sehen Sie, ich habe es nicht gelesen, aber für mich ist klar, dass er als Erzbischof Ratzinger nicht wissentlich etwas falsch gemacht hat.“ Exakt so funktioniert das katholische Dispositiv der Wahrheit, das sich nicht widerlegen lassen kann – weder bezogen auf das Amt des Papstes noch auf die Person, die es füllt. Ein
Erinnerungsfehler macht niemanden zu einem notorischen Lügner.

Aber Benedikt XVI. beharrte auf eine Weise auf seinem Nichtwissen, seiner Nicht-Anwesenheit, dass sie nur ihm nützt. Am Ende lässt sich seine Aussage nur deshalb von einem Meineid unterscheiden, weil er nicht vor Gericht stand.

Am Ende lässt sich Benedikts XVI. Aussage nur deshalb von einem Meineid unterscheiden, weil er nicht vor Gericht stand.

Daran kommt auch der amtierende Papst nicht vorbei: Sein Vorgänger hat sich als Mitarbeiter der eigenen Wahrheit demaskiert. In diesem Zusammenhang belastet Benedikt XVI. nicht zuletzt die Art, wie er das Treiben eines Priesters einordnet, der sich mit masturbierenden Handbewegungen Kindern präsentiert hat: Das sei kein Missbrauch, attestiert der emeri-
tierte Papst. Ob er sich für eine solche Aussage bei Betroffenen entschuldigt? Ob er wirksame Konsequenzen zieht und in einem symbolischen Akt der Reue den für sich erfundenen Ehrentitel eines Papa emeritus ablegt? Wahrheit be­steht nicht nur in der korrekten Fakten-
benennung, sondern zeigt sich auch in der Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Diese Fähigkeit hat
Joseph Ratzinger sein Theologenleben lang nicht gezeigt. Damit liegt er auf der Linie jener Kirche, deren selbstgewisses Wahrheitsmodell er zementiert hat.

Von Beton sprach folgerichtig der Münchner Anwalt mit Blick auf die Haltung, die den Gutachtern entgegentrat. Es handelt sich um ontologischen Beton, mit dem das bischöfliche Amt auf dem Fels der Kirche baut. Die apostolische Amtsgnade umfasst alles und wirkt immer. Dem Petrus des Matthäusevangeliums ist zugesagt, dass er der Fels der Kirche sei und dass ihn die Pforten der Unterwelt nicht überwältigen (Mt 16,18). Mit diesem Schlüsselwort muss man die Architektur des Ratzinger‘schen Theologiegebäudes wie das Mauerwerk einer mittelalterlichen Festung studieren, das man heute als Ruine besichtigen kann.

Als Zeuge der Unwahrheit

Hans Küng trat am vergangenen Donnerstag als Zeuge der Wahrheit auf: für die Kirche, die er nicht verließ, selbst als sie ihm das Lehren untersagte. Am Tag nach der Präsentation des Münchner Gutachtens mussten sich Joseph Ratzinger, Friedrich Wetter und Reinhard Marx in der Eucharistiefeier mit einer anderen Wahrheit konfrontieren lassen, der sie nicht ausweichen können. Im liturgisch vorgesehenen Abschnitt des Markusevangeliums setzt Jesus
die Zwölf ein und sendet sie aus, u.a. um Dämonen auszutreiben.

Ein Auftrag mit aktuellem Nennwert. Dann listet Markus die Namen der Apostel auf, mit Petrus an der Spitze, um mit dem Verrat des Judas zu schließen (Mk 3,13-19). Die Wahrheit des Evangeliums lässt sich auch im Verschleierungskomplex von Päpsten und Kardinälen nicht zum Schweigen bringen. Aber die Kirche muss sich fragen lassen, auf welchem Fels sie baut, wenn ein ehemaliger Papst fortan als Zeuge der Unwahrheit wahrgenommen wird.

Benedikt XVI. hat als Papst versucht, Licht ins Dunkel des katholi­schen Missbrauchskomplexes zu bringen. Seine Kirche vom Täterschutz auf die Perspektive der Betroffenen umzustellen. Ausgerechnet er erweist sich als Verschleierungskünstler. Wer kann dieser Kirche noch glauben, wenn Päpste und die, die sie zu Päpsten wählen, ihre persönliche Glaubwürdigkeit verspielen?

Der Autor ist Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Salzburg.

Navigator

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf 100.000 Artikel aus über 40 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf 100.000 Artikel aus über 40 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung