Jüdisch-christlich: Der inklusive Ansatz

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Der Begriff der Säkularisierung sage mehr über die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch aus als über jene zwischen Staaten und Religionsgemeinschaften, sagte der Präsident der Milton Friedman University, Daniel Bodnár, ein führender jüdischer Intellektueller, sinngemäß in seinem Vortrag beim Jahreskongress zum "Interkulturellen Dialog" der Europäischen Volkspartei (EVP), der im Oktober in Ericeira, Portugal, stattgefunden hat.

Das hat mich elektrisiert: Säkularisierung so zu begreifen verharrt nicht im schnöden Strukturieren von Staat und Gesellschaft anhand von Normen und Paragrafen - so wichtig das auch ist. Sie ganzheitlich und grundsätzlich zu verstehen, geht tiefer. Es ist nämlich so, dass der Sektor Staat die grund-und freiheitsrechtliche Pflicht hat, die Religionsfreiheit zu schützen und zu verteidigen, und dass es als Segen angenommen werden kann, wenn Religionen - wo das Geschöpf die Beziehung mit dem Schöpfer pflegt -sich frei entfalten können, ohne allzu viel Verquickung mit den staatlichen Kräften.

Prinzip "Entweltlichung"

Norbert Leser (2014) ist einem ähnlichen Motiv gefolgt: Die "profane Sphäre" und die "sakrale Sphäre" zu trennen, das diene beiden, formulierte er. Dem emeritierten Papst Benedikt XVI. sagt man eine kritische Haltung zu einer allzu unkritischen Verbindung von Staat und katholischer Kirche in seiner Heimat Deutschland nach. Papst Franziskusʼ Botschaft ist in vielerlei Hinsicht so zu verstehen, dass einen Christen weltlich-menschliche Hierarchien nicht davon abhalten sollten, in Prioritäten, Lebensführung und Verhaltensweisen Jesus nachzufolgen. Wenn weltliche Strukturen dem inklusiven Welt- und Menschenbild dienen, können sie zum Guten beitragen. Wer Franziskus ein politisches Maßnahmenprogramm unterstellt oder gar einen ideologischen Umwälzungsanspruch, liegt meines Erachtens gravierend falsch. Auch Franziskus geht tiefer.

In meiner Freude über Bodnárs Gedanken habe ich das Zitat via SMS an zwei Freunde geschickt, einen katholischen Priester und einen christlichen Intellektuellen und Publizisten. Der Priester, ganz in der Seelsorge, der Verkündigung und der kirchlichen Tagesarbeit stehend, antwortete knapp: "Versteh ich nicht." Der Intellektuelle hob an: "Genau. Die Differenz zwischen Säkularität und Laizität spielt da eine Rolle."

Was sagt uns das? Erstens: Derlei philosophische Überlegungen sind nur so viel wert, wie sie helfen, Gott und die Welt besser zu verstehen, uns zurechtzufinden in den kleinen und großen Wellen der Menschheit und des eigenen Lebens.

Zweitens: Während die Säkularisierung - oder "Säkularität" - vom Staat verlangt, die Wirklichkeit anzuerkennen, dass es Religionen gibt, deren Freiheit allein deshalb zu verteidigen ist, weil ohne diese Verteidigung die Gläubigen an Leib und Leben gefährdet sind, neigt der Laizismus -oder die "Laizität" - dazu, staatliche Konstruktionen zu präferieren, welche die Existenz von Religionen ignorieren. Wie immer, wenn ideologische Deutungen überhandnehmen, entsteht ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit, was zu Fehlentscheidungen führt.

Drittens: Dass ein Parlamentarier, also ein Vertreter der Bürger gegenüber dem Sektor Staat, dessen Tätigkeit sich in der "profanen Sphäre" abspielt, in einem Text wie diesem derlei Fragen öffentlich völlig frei reflektieren darf, ist einerseits ein Zeichen der Unterscheidung zwischen Gott und Mensch, denn Zweiterer sucht Ersteren, der ist und bleibt; und andererseits ein Zeichen der Trennung von Religion und Staat, denn keine Instanz dieser Welt kann mir vorschreiben, was ich zu glauben habe, oder mir den Glauben vorenthalten, oder mich zwingen, meinen Entscheidungen gerade diese oder eben jene ethisch-moralischen Aspekte zugrunde zu legen. Ich bin dankbar für diese Freiheit, für die Religionsfreiheit bei uns in Österreich und Europa, die nicht selbstverständlich und immer zu verteidigen ist.

Kein EVP-Monopol

Szenenwechsel: Scheinbar zufällig führte ich eines meiner ersten Gespräche nach meiner Ankunft in Brüssel als neuer Europa-Abgeordneter mit einem hochrangigen kirchlichen Würdenträger, der ebenfalls in der Stadt war. Wir waren uns einig, dass der Kampf für Religionsfreiheit und gegen die hierzulande oft unterschätzte Christenverfolgung eine zentrale Aufgabe Europas in der Welt ist. Mein Gesprächspartner betonte aber auch etwas, das mir zuvor in dieser Form nicht bewusst gewesen war: Der Kampf gegen Christenverfolgung darf nicht von einer einzigen politischen Familie vereinnahmt werden. Dieses Thema werde als Agendapunkt der EVP wahrgenommen, sei aber zu breit und grundsätzlich, um es parteipolitischer Zuordnung zu überlassen.

Selbstverständlich teile ich diese Ansicht. Daher versuche ich in einschlägigen Aktivitäten unablässig, andere politische Familien einzubeziehen. Punktuell ist das auch schon gelungen -etwa mit zwei Kolleginnen von der sozialdemokratischen und der liberalen Fraktion im Europa-Parlament, Catherine Stihler und Martina Dlabajová.

Auf dieser Basis ist es auch zu verstehen, dass der interkulturelle Dialog ein EVP-Dialog ist. Keine andere politische Familie im Europa-Parlament treibt diesen Dialog mit einer eigenen "Working Group" strukturiert und konsequent voran. Verbreiterung würde der Sache dienen!

Einer der Organisatoren des Dialogs ist mein portugiesischer Kollege Paulo Rangel. Er hat aus Anlass der Einladung zu einem Vortrag unter dem Titel "Jesus und Politik" seine Gedanken in Buchform herausgebracht (im Eigenverlag, auf Portugiesisch, Englisch und Französisch). Rangel nähert sich der Fragestellung anhand der "Primärquellen" der vier Evangelien, mit einer gedanklichen "Freiheit, wie sie nur die Ignoranz" erlaubt. Das ist eine erstaunliche Formulierung! Gemeint sein kann freilich nur die Ignoranz gegenüber den durchwachsenen Geschichten und Gegenwarten in unseren Gesellschaften und Leben: "Ad fontes!"

Der Politiker stellt redlicherweise die Frage, ob man Jesus überhaupt mit Politik in Verbindung bringen könne, ja dürfe, und hält fest, wie Jesus nicht einzuschätzen sei: Er habe in seinem beispielhaften Leben "keine Zeit verschwendet" mit wie immer gearteten "machiavellistischen Spielchen", und er habe auch kein Entrücken in realitätsferne Sphären zugelassen, wie es der wohl inspirierten, aber nicht in Fleisch und Blut übergehenden "aristotelischen Philosophie" entspricht. Auch biete Jesus keine simplen Handlungsanleitungen oder gar Gebrauchsanweisungen für politisches Handeln, keinen simplen Maßnahmenkatalog, kein politisches Programm, keine Checklist.

Die Verschonung Isaaks als Zäsur

So nähert sich Rangel der Fragestellung von einer einleuchtenden Seite: Was war an Jesus dergestalt politisch, dass die politischen Autoritäten ihn beseitigen wollten? Er landet bei dem Hinweis, dass sich die Priorität Jesu für die Schwachen, Armen, gesellschaftlich Ausgeschlossenen als Grundmotiv durch alle Evangelien ziehe. Wie breit und tief das zu verstehen sei, macht er mit den Hinweisen auf mehrere reiche, hierarchisch hochgestellte, aber gesellschaftlich abgelehnte Personen deutlich, mit denen sich Jesus abgegeben hat, um dann auszusprechen: "Seine Botschaft richtet sich an alle, ohne Ausnahme." Genau das gilt es aus meiner Sicht zu verstehen und verständlich zu machen -dass wirklich ausnahmslos jeder Mensch gleich viel wert und einzigartig ist: der inklusive Ansatz!

Spätestens als Abraham Isaak verschont hat, weil er durch seine spirituelle Offenheit gesehen hat, dass Gott nicht Menschenopfer fordert, kann man den Beginn dessen festmachen, was man jüdisch-christliches Menschenbild nennt. Was für ein Geschenk! Nicht umsonst nannte Norbert Leser die Menschenrechtserklärung "das größte Geschenk des Christentums an die Menschheit" (was selbstverständlich berücksichtigen muss, dass ohne "die älteren Schwestern und Brüder im Glauben" - ohne Judentum -das Christentum gleichsam in der Luft hängen würde und nicht vorstellbar wäre). Auch die Aufklärung ergibt sich aus dem jüdisch-christlichen Menschenbild.

Rangel dokumentiert in seinem Büchlein auch, dass er seine Gedanken aus der Perspektive eines "schlechten Samariters" schreibt, dass es höchst persönliche und anfechtbare Überlegungen sind, die er formuliert. Auch dessen sollten sich gerade Politikerinnen und Politiker bewusst sein, und es hin und wieder aussprechen. Ich räume das auch für diesen hier vorliegenden Text ausdrücklich ein.

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