Eberhard Jüngels Geniestreich

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Ein "Zeitgespräch" über die "Predigt des Jahres 2003".

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Ein "Zeitgespräch" über die "Predigt des Jahres 2003".

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Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen wählt alljährlich eine "Rede des Jahres". Zuletzt waren es Politiker und Schriftsteller, die ausgezeichnet wurden. Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer, Martin Walser, Rolf Hochhuth und andere. Neben all den Parteitags- und Festreden wird gerne vergessen, dass in den christlichen Kirchen Sonntag für Sonntag eine Rede gehalten wird. Unzählige Homilien und Predigten versuchen, dem Anspruch der geistlichen Rede mit dem Ideal der Kanzelberedsamkeit gerecht zu werden. Besonders im Protestantismus ist dieses Ideal zum Programm erhoben worden: Kein Gottesdienst ohne Predigt! Aber wie steht es mit der Realität? Augustinus hatte davor gewarnt, dass die Verkündiger der Wahrheit oft "kalte und matte Reden voll Schläfrigkeit" halten und Luther wusste, dass es höchste Kunst ist, "einfeltig" zu reden: "Christus hat am aller einfeltigsten geredt und war doch eloquentia selbst."

Nun wurde eine evangelische Predigt zur Rede des Jahres 2003 gewählt: Eberhard Jüngel predigte im Berliner Dom über Genesis 16, die Geschichte von Abraham und den zwei starken Frauen Sara und Hagar (zu finden unter: www.berlinerdom.de).

Die Jury lobt diese Predigt überschwänglich: Ein "hermeneutischer und rhetorischer Geniestreich", ein "Gipfelpunkt der Predigtgeschichte", der mustergültig die Möglichkeiten der protestantischen Predigt als Auslegung der Bibel aufzeigt. An diesem Beispiel gemessen wirke die übliche Predigtpraxis als von aller Beredsamkeit verlassene platte Meinungsrede oder bloße Plauderei. Harte Worte der Rhetorikexperten! Der Verallgemeinerung ist auch zu Recht widersprochen worden. Dennoch: Gerade für Evangelische soll die harsche Kritik und mehr noch das positive Beispiel ein Ansporn sein.

Der Autor ist Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche A.B.

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