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Jürgen Habermas: Wie Atheisten und Gläubige einander verstehen können

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Auch religiöse Menschen sollten religionskritisch sein: Plädoyer für ein neues Reden von Gläubigen und Nichtglaubenden. Paul Wess über die Verbindung von "säkular" und "religiös" nach dem deutschen Philosophen und Soziologen.

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Auch religiöse Menschen sollten religionskritisch sein: Plädoyer für ein neues Reden von Gläubigen und Nichtglaubenden. Paul Wess über die Verbindung von "säkular" und "religiös" nach dem deutschen Philosophen und Soziologen.

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Jürgen Habermas hat in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 14. Oktober 2001 sowohl der aufgeklärten, säkularen Gesellschaft von heute als auch den Religionen eine schwierige Aufgabe gestellt: "Moralische Empfindungen, die bisher nur in religiöser Sprache einen hinreichend differenzierten Ausdruck besitzen, können allgemeine Resonanz finden, sobald sich für ein fast schon Vergessenes, aber implizit Vermisstes eine rettende Formulierung einstellt. Sehr selten gelingt das, aber manchmal. Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich im Modus der Übersetzung."

Ein solches Über-Setzen soll hier versucht werden. Es kann nur gelingen, wenn es auf beiden Seiten ein übereinstimmendes Vorverständnis gibt, an das die jeweils andere Seite anknüpfen kann: ein gemeinsames Element, das es möglich macht, einander zu verstehen.

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In einer Begegnung zwischen Säkularität und Religiosität müsste es sich um eine säkulare Offenheit für Religion handeln, die beide bejahen können. Umberto Eco fragt in seinem Briefwechsel mit Kardinal Carlo M. Martini ("Woran glaubt, wer nicht glaubt?") in dieselbe Richtung: "Gibt es einen Begriff von Hoffnung (und von unserer Verantwortung für das Morgen), der Gläubigen und Nichtgläubigen gemeinsam sein könnte? Worauf könnte er sich gründen?". Um eine Antwort zu finden, müssen Säkulare und Religiöse sich zunächst selbst hinterfragen.

Wirklich aufgeklärte säkulare Menschen sind auch der Aufklärung gegenüber kritisch und wissen um deren Grenzen. Sie haben zur Kenntnis genommen, dass es keine voraussetzungsfreie Wissenschaft gibt (Gödelsches Axiom), und dass der Mensch weder sich selbst entwerfen noch seinem Dasein selbst Sinn geben kann. Denn der sich selbst setzende und Sinn gebende Mensch ist eine unhaltbare Fiktion: Er müsste mit sinnvollen Fähigkeiten schon existieren, um sich als Quelle von Sinn setzen zu können. Mit den Worten von Habermas: "Der szientistische Glaube an eine Wissenschaft, die eines Tages das personale Selbstverständnis durch eine objektivierende Selbstbeschreibung nicht nur ergänzt, sondern ablöst, ist nicht Wissenschaft, sondern schlechte Philosophie."

Biblisch gesprochen:
Wahrhaft säkulare Menschen wollen nicht (wie) Gott sein, nicht selbst die Maßstäbe für Gut und Böse setzen. Sie halten als "bekümmerte Atheisten" (Karl Rahner) die Frage nach Gott offen.

Noch weniger als das eigene Dasein kann der Mensch die Existenz der anderen und die Beziehungen zu ihnen wie ein Ding begreifen und damit zum beherrschbaren Gegenstand seiner selbst machen. Das meint auch Habermas, wenn er warnt: "Die Sprache des Marktes dringt heute in alle Poren ein und presst alle zwischenmenschlichen Beziehungen in das Schema der Orientierung an den je eigenen Präferenzen.

Das soziale Band, das aus gegenseitiger Anerkennung geknüpft wird, geht aber in den Begriffen des Vertrages, der rationalen Wahl und der Nutzungsmaximierung nicht auf." Das gilt auch für den Staat, der von moralischen Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht herstellen kann (so der deutsche Staatsrechtler Wolfgang Böckenförde). Und eine Wirtschaft, die den Menschen nur als Gegenstand der Kalkulation sieht, richtet sich selbst zugrunde.

Die katholische Kirche hat auf dem letzten Konzil diese Ungläubigen als "Menschen guten Willens" bezeichnet, die so wie die Gläubigen "der Auferstehung entgegengehen"
(Gaudium et spes 22).

Zu einer kritisch aufgeklärten Säkularität gehört es vielmehr, die Vorgegebenheit des mitmenschlichen Daseins in seiner Welt anzunehmen und behutsam darauf einzugehen: das Leben und die Liebe nicht beherrschen und manipulieren zu wollen, sondern ihre Fraglichkeit und Begrenztheit auszuhalten und sich zumindest vorläufig auf sie einzulassen.

Diese Art von Weltlichkeit ist keine Religion. Sie erfährt das vorgegebene Sein nicht gleich als sinnvoll und kann daher dessen Ursprung nicht als sinngebenden, guten Grund deuten. Aber sie erklärt dieses Geheimnis nicht von vornherein für absurd, sondern verhält sich ihm gegenüber offen. Sie verweigert sich nicht dem Leben und der Liebe, sondern gibt ihnen eine Chance in der leisen Hoffnung, dass in ihnen ein Sinn liegt, der noch zu finden wäre.

Biblisch gesprochen: Wahrhaft säkulare Menschen wollen nicht (wie) Gott sein, nicht selbst die Maßstäbe für Gut und Böse setzen. Sie halten als "bekümmerte Atheisten" (Karl Rahner) die Frage nach Gott offen. Die katholische Kirche hat auf dem letzten Konzil diese Ungläubigen als "Menschen guten Willens" bezeichnet, die so wie die Gläubigen "der Auferstehung entgegengehen" (Gaudium et spes 22).

Kritik der Religionen

Ludwig Feuerbach erkannte die Versuchung des Menschen, sich nach seinem Bild Gott zu schaffen (er beging allerdings den Fehler, dann den Menschen zu Gott zu erklären, fiel also selbst einer Projektion zum Opfer). Die Religionen sind tatsächlich in Gefahr, dass in ihnen Menschen sich Gott nach ihren Vorstellungen zurechtlegen und dabei sogar mittels der Beziehung zu Gott oder mittels Gottes selbst - der dann aber ein Götze ist - wie Gott sein wollen. Das ist die Perversion der Religion in ihr Gegenteil, auch wenn es "religiös" verbrämt wird. Solche pseudoreligiöse "Religionen" treten dann mit einem Absolutheitsanspruch auf, der ihnen als menschlicher und daher begrenzter Wirklichkeit nicht zusteht. Sie bringen dadurch Gott in Verruf.

Religionskritik muss daher sowohl eine atheistische als auch eine pseudoreligiöse Vergöttlichung von Menschen zurückweisen. Das gilt auch für die menschlichen Empfänger und Überbringer von göttlichen Offenbarungen, somit für Mose, Jesus und Muhammad. Alle drei waren Menschen mit begrenztem Erkennen und setzten sich nicht mit Gott gleich. Auch "der Mensch Christus Jesus" (1 Tim 2,5), nach christlichem Glauben mit Gott "unvermischt" und "ungetrennt" vereinigt (Konzil von Chalkedon), ist nicht Gott im Sinn einer realen Identität. Er wurde versucht, wie wir versucht werden, und war in allem uns gleich außer der Sünde. Angesichts des Todes fühlte er sich von Gott verlassen wie wir. Diese Begrenztheit gilt erst recht für Schriften, in denen solche Offenbarungen von Menschen aufgezeichnet wurden.

Gott bleibt nur solange ein "Gott freier Menschen", wie wir die absolute Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht einebnen.

Jürgen Habermas

Wie die Bibel enthält auch der Koran Irrtümer (etwa, dass Maria mit Gott Vater und Sohn die christliche Dreifaltigkeit bildet: Sure 5, 116f.) und zeitbedingt menschliche Anweisungen. Während aber das Christentum schon eine historisch-kritische Exegese der Bibel zulässt, wird eine solche des Korans im Islam abgelehnt.

Die Voraussetzung für ein gegenseitiges Verständnis von Gläubigen und Ungläubigen sowie für einen friedlichen Umgang der Religionen und der von ihnen geprägten Kulturen untereinander ist also, dass die Religiösen religionskritisch sind und ihre eigene Begrenztheit annehmen. Auch wenn sie ihre Religionen auf Gott zurückführen, sind diese menschlich und nicht (auch) göttlich. Daher können die Religionen nicht unter Berufung auf eine Sendung durch Gott mit einem quasi-göttlichen Absolutheitsanspruch auftreten, sondern sollten in der gläubigen Entfaltung des vorgegebenen menschlichen Daseins wetteifern im Guten und in der Suche nach der größeren Wahrheit (vgl. furche 4/2001, Seite 7).

Habermas, der sich zu den "religiös Unmusikalischen" rechnet, erinnert die Gläubigen an das unerreichbare Größer-Sein Gottes: "Gott bleibt nur solange ein ,Gott freier Menschen', wie wir die absolute Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht einebnen." In biblischer Sicht ist der Mensch nicht Gottes Ebenbild, sondern Gottes Abbild (wörtlich: "Statue"). Gott wohnt in einem uns für immer "unzugänglichen Licht" (1 Tim 6,16).

Gemeinsame Basis

Selbstkritisch säkular und selbstkritisch religiös eingestellte Menschen anerkennen beide die Vorgegebenheit des mitmenschlichen Daseins und sind sich einig in der Vorsicht, in der sie von Gott - ihn anzielend, nicht erreichend - sprechen. Auch säkular denkende Menschen leben aus der (leisen) Hoffnung, dass sich ein Sinn des Lebens zeigen wird. Nur auf dieser Basis wagen sie zu verantworten, Kindern das Leben zu schenken, ohne diese vorher fragen zu können, ob sie auf die Welt kommen wollen. Sie maßen sich nicht an, über das menschliche Leben zu herrschen und festzulegen, unter welchen Bedingungen es lebenswert ist.

Kritisch religiöse Menschen wissen, dass ihr Glaube keine größere Gewissheit haben kann als die eines Vertrauens; denn er beruht auf Erfahrungen, die eine Deutung des Lebens als Geschenk eines sinngebenden Grundes legitimieren. Sie begründen ihren Glauben nicht mit dem Zirkelschluss, der das innerste Wesen des religiösen Fundamentalismus ausmacht und lautet: Weil diese Lehre göttlich ist, stimmt auch, dass sie göttlich ist (Jesus hat nach Joh 7,17 seinen Hörern ein eigenes Urteil zugemutet). Sie gestalten vielmehr eine Praxis, an der sich die Wahrheit ihrer Botschaft erweisen kann. Sie sind vom Leid in der Welt betroffen und ertragen wie Jesus die Angst und das Gefühl der Gottverlassenheit; aber in der (festen) Hoffnung, dennoch in Gott geborgen zu sein.

Fjodor M. Dostojewskij hat in einem Satz, den der Erzpriester Tichon zu Stawrogin sagt (Die Dämonen II/IX/I), die Haltung einer säkularen Vorform von Religiosität treffend beschrieben: "Der vollkommene Atheist steht auf der vorletzten Stufe der Leiter, die zum vollkommenen Glauben führt." Weil der wahrhaft Religiöse die Situation eines Atheisten guten Willens kennt und seinen Glauben dadurch in Frage stellen lässt, können die beiden einander verstehen und wechselseitig dazu beitragen, von frommer Selbstsicherheit ebenso Abstand zu halten wie von gottlosem Stolz.

Der Autor ist Pastoraltheologe in Innsbruck.

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