Identität im Pluralismus - © Pixabay auf Pexels

Kardinal Schönborn: Identität der katholischen Kirche mitten im Pluralismus

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Überlegungen zur Positionierung der Kirche in einer Gesellschaft, die Vielfalt kutliviert

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Überlegungen zur Positionierung der Kirche in einer Gesellschaft, die Vielfalt kutliviert

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Die Frage, wie die Kirche sich entwickeln muss, um unter den veränderten Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft ihren Auftrag erfüllen zu können, gehört wohl zu den wichtigsten. Alle diesbezüglichen Suchbewegungen hängen zutiefst mit dem Begriff der Identität zusammen.

1. Identität in ihrem Verhältnis zu Relevanz in einer pluralistischen Gesellschaft

Ohne Darlegung der verschiedenen Definitionen von Identität, Pluralität und Pluralismus soll gleich das grundlegende Verhältnis zwischen Identität und Relevanz im geläufigsten Ansatz dargestellt und in seinem mehr oder minder absoluten Geltungsanspruch auch angefragt werden. Ich meine das sogenannte Identität-Relevanz-Dilemma, das vor allem auf die Spannung zwischen diesen beiden Polen abstellt.

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Das Dilemma besagt in aller Kürze, dass die klare Benennung all dessen, was der je eigenen Identität zutiefst entspricht, die aktuelle Relevanz auf dem Markt der Meinungen und Optionen in einer pluralistischen Gesellschaft senkt.

  • Davon legen die vielfach verwechselbar gewordenen Profile der stimmenstarken politischen Parteien Europas ein beredtes Zeugnis ab. In dem Moment, in dem etwa Grünparteien ihre Individualverkehrskonzepte, Sozialdemokraten ihre Umverteilungsprogramme vorlegen, etwas, was zweifelsohne beider Identität betrifft, sinken ihre Umfragewerte ab.
  • Ähnlich ist auch unsere Erfahrung als Kirche: Wo wir unsere kantenfreie Nützlichkeit unter Beweis stellen können, beim Ausrichten von Feiern, im Bereich von Sinnstiftung und "softer" Kontingenzbewältigung, im Feld der Bildung oder des Sozialen billigt man uns gerne Relevanz zu. Diese sinkt aber sehr schnell, wenn wir Wahrheitsansprüche geltend machen oder Grundlinien unserer Soziallehre einfordern. Wir erleben also, dass uns die Gesellschaft klar vorgibt, wodurch wir unsere Relevanz effektiv erweisen und wodurch nicht.

Theologisch noch einmal vertieft geht es bei diesem Identitäts-Relevanz-Dilemma um die Frage, ob die Bewahrung des "Eigentlichen" einer Botschaft, die Identität garantiert, vor oder nach dem Bestreben reihe, gesellschaftlich aktuell relevant zu sein.

Mutig die Augen, Ohren und Herzen öffnen

Nun ist natürlich schon durch die Bezeichnung der Spannung als "Dilemma" eine gedankliche Einengung vorgenommen, denn sie schließt Auswege aus. Und doch lohnt es sich, über solche Wege, die keinesfalls immer nur Aus-wege sind, nachzudenken.

  • Aus den Erfahrungen mit den politischen Parteien erhalten wir ja de facto nur über mehr oder minder kurzfristige Entwicklungen Aufschluss, da diese jeweils im Sinne des Dilemmas sofort reagieren. Sie ändern im Normalfall ihre Identitätsstrategie stante pede zugunsten einer Relevanzstrategie. Bei längerfristigem Verhalten im Sinne einer Identitätsstrategie wäre es durchaus denkbar, dass sich die Spannung zwischen Identität und Relevanz als eben doch nicht dilemmatisch erweist. Denn im Blick auf den hohen Bedarf an Bestimmtheit, die eine pluralistische Gesellschaft zum Überleben braucht, könnte sich das Dilemma auflösen: Gerade ein hohes Maß an konsequent offengelegter Identität würde hohe Relevanz zur Folge haben. Dieser Möglichkeit, von einigen Soziologen durchaus ernsthaft erwogen, tritt man innerkirchlich eher nur zögerlich nahe. Ich lade ein, für die vielen Entwicklungen in diese Richtung die Augen, die Ohren und die Herzen zu öffnen und sich von ihnen Mut zu holen.

Eines steht jedenfalls leider fest: die Relevanzstrategie, welche die Kirche in den letzten Jahrzehnten vielfach verfolgt hat, war ja, wie die Erfahrung zeigt, nicht gerade die erfolgreichste, hat eher zur Identitätskonfusion geführt, ohne die eigentlich zu erwartende hohe Relevanz zur Folge gehabt zu haben.

  • Aber auch von einem immer wichtiger werdenden Ethos der Verständigung innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft her muss das Dilemma grundsätzlich angefragt werden. Es scheint status-ehrlicher, wenn wir - selbst gegen pragmatische Erfahrungen - zuerst unser identitätskonformes Profil offen legen und leben und uns dann auf ein gelassenes Gespräch über all unsere Beiträge im Sinne einer öffentlichen Relevanz einlassen. Damit wäre erstens ein wichtiger Schritt gegenüber einer zunehmenden Funktionalisierung dessen, was wir sind, getan. Vielleicht ist das heute der letzte verbleibende Weg gegenüber dem Zwang von Religion, zu einer bloß brauchbaren "civil religion" zu mutieren. Dadurch wäre aber zweitens ein nicht zu unterschätzender - und zugleich hoch relevanter - Beitrag zu dem geleistet, was in der pluralistischen Gesellschaft oberstes, aber höchst zerbrechlich gemachtes Gut ist: Freiheit, die in Gefahr ist, zur Beliebigkeit zu verkommen.

Ich denke, der schöne Grundsatz von der doppelten Treue gegenüber Gott und dem Menschen, könnte hier leitend sein.

  • Die mit ganz bestimmten Konnotationen versehenen Paare, die dem Dilemma zugrunde liegen, verdienen es ebenfalls in ihrem "aut-aut", in ihrem "entweder-oder" genauer betrachtet zu werden. Es werden nur je eine ganz bestimmte Spielart von Identität und eine ganz bestimmte von Relevanz gegenübergestellt: eine Identität, die das Eigentliche nur bewahrt und quasi unverändert vermittelt; eine Relevanz, die durch Aktualisierung und Situierung das eigentlich Identitätkonstituierende verdunkelt. Dass Identitätsstiftendes auch so neu gesagt werden kann - ja muss! -, dass es aktuell verstehbar und damit relevant wird, kommt viel zu wenig in Betracht. Ebenso wird ausgeblendet, dass Erfahrungen von Relevanz selbstverständlich wieder Rückwirkungen auf die Identität haben.

Ich denke, der schöne Grundsatz von der doppelten Treue gegenüber Gott und dem Menschen, könnte hier leitend sein - ganz im Sinne eines gut katholischen "et-et", eines "sowohl als auch". Denen, die auf Identität ausschließlich durch Bewahrung wie jenen, die auf Relevanz ausschließlich durch Veränderung setzen, beiden kann der Satz aus Lampedusas berühmten Roman "Der Leopard" mitgegeben sein: "Damit alles bleibt, wie es ist, wird sich sehr viel ändern müssen."

2. Identitätsfallen: Fallen beim Konzipieren, Aufbauen und Erhalten von Identität

2.1. Identität als Selbstzweck

Bei der Lektüre mancher Theoretiker individueller wie kollektiver Identitäten entsteht der Eindruck, den ich auf die folgende Kurzformel bringen möchte: "Identität gewonnen - alles gewonnen". Vielleicht resultiert daraus die etwas verbitterte Grundstimmung im kirchlichen Kampf um Identität, die es aber auch zu relativieren gilt.

Denn mit aller Entschiedenheit ist auf ihren grundsätzlichen Geschenkcharakter, dann aber auch auf den dienenden Charakter von Identität zu verweisen. Identität zu bewahren und sie unter dem Anspruch des Kairos zu entwickeln, ist besonders für die Kirche niemals Selbstzweck, sondern vor allem Voraussetzung für die Erfüllung ihres Weltauftrags.

Eben wegen dieses spezifischen Auftrags der Kirche an und in der Welt darf ihr auch nicht jedes Mittel recht sein, sich ihrer Identität zu vergewissern: Erklärung der Welt zur feindlichen Gegenwelt, Realitätsverweigerung und Aufrufe zum Rückzug in den Bunker der Gleichgesinnten - all das sind Wege, die ihr nicht zustehen. Es wäre letztlich Identitätsverlust, wenn sie sich aus einem durchaus verständlichem Bedürfnis nach Sicherheit, Geborgenheit und Unangefochtenheit aus dieser Welt heraushielte. Jede Definition eigener Identität als ein "Stand-Gewinnen in sich selbst", die diese Hinordnung auf ein "Sein für andere im Auftrag eines Anderen" nicht berücksichtigt, lädt ein zu jener Bewegung, die uns leider ohnehin viel zu vertraut ist: Dem Kreisen um uns selbst.

Man könnte diese erste Falle als die Selbstverwirklichungsfalle bezeichnen, in welche gerät, wer unreflektiert und unbezogen auf ein Du diesem ungebrochenen Megatrend der letzten Jahrzehnte huldigt.

2.2. Identität als Ergebnis bloß von Negation

Es ist bekannt, dass - zumindest vordergründig - nichts Identität besser entstehen lässt als ein solides Feindbild, von dem man sich in möglichst vielen Punkten abgrenzen kann.

Dieser Weg hat selbstverständlich auch in der Geschichte der Kirche eine große Tradition und er hatte in Zeiten von Verfolgung und Diaspora sicher auch seine Berechtigung. Es darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass uns das II. Vatikanische Konzil einen anderen Weg eröffnet hat und uns mutig vorangegangen ist. Es konnte über Gott, die Welt, die Kirche und die Menschen handeln ohne sich auch nur eines einzigen Anathemas zu bedienen.

Es musste nicht in erster Linie auf Differenzen seinen Blick richten, sondern konnte zuerst einmal auf Gemeinsamkeiten setzen: Zwischen Kirche und Welt, zwischen Priestern und Laien, zwischen den Gläubigen und den Nichtglaubenden, zwischen den Religionen und zwischen den Kirchen. Damit hat es uns zu einer noch viel zu wenig beachteten Sichtweise auch für unsere Identität eingeladen - gerade in einer pluralistischen Gesellschaft. Die prioritäre Suche nach dem, dem man zustimmen kann, zu dem man sein "Ja und Amen" sagen kann, lohnt die Mühe des Umdenkens.

Dass es dabei gerade um der Identität willen immer auch die Notwendigkeit einer klaren und dezidierten Abgrenzung gibt und geben muss, versteht sich von selbst. Die alles entscheidende Frage ist, was ich im Sinne eines Kriteriums als das Eigentliche, das Zentrale, das Unaufgebbare meiner Identität ansetze. Bestimme ich - auf der Suche nach christlicher Identität - etwa bestimmte kirchliche Strukturen als das, woran alles für mich hängt, gerate ich in Gefahr, Peripherie und Mitte miteinander zu verwechseln und überhaupt den grundsätzlichen Verweischarakter von Kirche auf das Geheimnis Gottes zu vergessen.

Das wäre dann ein Fundamentalismus, den man zu Recht fürchten müsste. Es gibt aber auch ein Fundamental-Sein anderer Art, das theologisch verantwortbar den lebensfreundlichen Gott und seine tiefe Zuwendung zur Welt in die Mitte rückt und - fernab von allen Dilemmata - nicht bereit ist, sich von dieser Mitte zu distanzieren und sie der Beliebigkeit der Peripherie anheimzugeben.

So nenne ich die Falle, die es hier zu umgehen gilt, die Fundamentalismusfalle. In sie tappt selbst, wer weniger Wesentliches zum Wesentlichsten erhebt und dafür in den Kampf der Ab- und Ausgrenzung zieht. In sie führt aber auch, wer jeden, der sich wohlüberlegt zeitgeistkonformen Plausibilitäten verweigert, ungeprüft einem Fundamentalismusverdacht aussetzt.

2.3. Identität als Festung

Offenheit und Geschlossenheit sind heute in vielfacher Hinsicht - nicht nur politische! - Reizworte, die auch im Bezug zu Identität Perspektiven eröffnen.

Geschlossene Identitäten kann man sich am besten unter dem Bild eines Hauses mit geschlossen Türen und Fenstern vorstellen. Man ist sich selbst genug, erklärt sein Haus für die Welt und erwartet sich nichts von Außen, weshalb es auch keine weiteren Kontakte gibt. Die Grenzmauern zwischen drinnen und draußen sind klar gesetzt, sie schützen die Innenwelt, geben Halt und sorgen dafür, dass alle Bewohner wissen, wohin sie gehören.

Für offene Identitäten kann ebenfalls das Bild eines Hauses verwendet werden, allerdings mit Vorgärtchen samt einer Bank zum Verweilen. Fenster mit Blumenkistchen und alle Türen sind geöffnet, von außen kann man in das Innere blicken. Bewohner und Gäste gehen gerne ein und aus, an den offenen Fenstern tauchen Menschen auf, die Ausschau halten und Gespräche anknüpfen. Auch hier definieren Mauern den Innenraum, man fühlt sich heimelig, aber man hofft auf Bereicherung von Außen.

Eine andere als eine offene, an den Rändern durchlässige Identität ist für die Kirche gar nicht denkbar. Lebt sie doch vor allem aus der eschatologischen Spannung auf ihre Vollendung im Reich Gottes hin. Offen für diese immer größeren Verheißungen Gottes, begeben sich Christen, die in der Kirche Heimat haben, aus der Sicherheit des eigenen Hauses heraus auf Suche nach einer Verständigung über das, was andere Menschen in dieser pluralistischen Welt trägt.

Auch fremden Lebens- und Glaubensgeschichten wird zuerst einmal zugetraut, ebenfalls Zeugnis von der größeren Wahrheit Gottes sein zu können. Die Erkenntnis, dass man das Andere auch braucht, um die einzigartige Rolle, die man selbst zu erfüllen hat, zu verstehen, lässt die Augen voll Erwartung aufgehen. In der Wahrnehmung von Gemeinsamem wie von Unterschiedlichem wächst Identität. In einer solchen Kirche wird in erster Linie einmal nicht abqualifiziert, was sich an religiösen Suchbewegungen außerhalb des eigenen Hauses oder überhaupt unbehaust ereignet. Das könnte eine neue Anschlußfähigkeit der Kirche in der Welt bedeuten, ohne in dieser aufzugehen.

Wer demgegenüber bei der Bildung christlicher Identität nur auf Geschlossenheit setzt, erstarrt in der Rückzugsfalle, die vieles vergessen macht: dass Kirche als Ekklesia eine Herausgerufene um aller Menschen willen ist und dass Gott einer ist, der hinausführt - auch in Fremdheit und Ungewissheit.

3. Pluralismusfallen: Fallen in der Art und Weise, über den Pluralismus zu denken und sich ihm gegenüber zu verhalten

3.1. Pluralismus als das große und fremde Gegenüber der Kirche

Allzu gerne sehen wir den Pluralismus als etwas an, das als rein gesellschaftliches, uns noch dazu vor allem negativ berührendes Phänomen verunsichert. Das ist zweifelsohne richtig, er ist ein gesellschaftliches Phänomen und wir verspüren ihn derzeit als starken Gegenwind.

Aber genauso richtig ist es auch, dass uns Pluralismus in der Kirche ganz und gar nicht fremd ist und in unserer Geschichte auch schon den Charakter eines tragenden Rückenwinds entfaltet hat. Es beginnt bei der Eigenart unserer Offenbarungstraditionen, die uns in manchmal fast unvereinbarer theologischer Vielfalt gegeben sind. Es bedeuten die Wege, welche die junge Kirche mit der Aufnahme von Heidenchristen, aber auch im Römischen Reich spannungsreich durchschreitet, unterschiedliche Erfahrungen von atemberaubender Pluralität. Auch die Vielfalt der Orden mit ihren unterschiedlichen Lebensregeln, verschieden gewichteten Verhältnissen von Aktion und Kontemplation, und den daraus resultierenden so differenten Wirkungsgeschichten, gehört zu uns. Einer der ersten Schritte zur Pluralisierung in Europa wurde dann durch die schmerzlichen konfessionellen Trennungen gesetzt, welche die Kirchen zu verantworten haben.

Dass wir alle gelernt haben, Pluralismus auch als Reichtum sehen zu lernen, zeigt sich wohl am deutlichsten in der ökumenischen Bewegung, der es keinesfalls darum gehen darf, Einheit um den Preis eines Verlusts von Vielfalt zu erreichen.

Wer also Pluralismus nur in seiner bedrohlichen Außendimension wahrnimmt, tappt in eine Reduktionsfalle und gerät dadurch in Gefahr, die vielfältigen kirchlichen Erfahrungen und durchaus erfolgreichen Strategien im Umgang mit Pluralismus nicht zu heben.

3.2. Pluralismus als Legitimation geistiger Bequemlichkeit

Für manche Zeitgenossen scheint sich der postmoderne Pluralismus als ein "anything goes" darzustellen: alles ist gleich gut, dann wird alles gleich gültig, zuletzt alles gleichgültig. In einem solchen Verständnis erübrigt sich jeder anspruchsvolle Diskurs, die Frage nach Wahrheit, nach Konsistenz und Argumentierbarkeit von Konzeptionen kommt erst gar nicht in Sichtweite. Jede noch so banale Äußerung gelangt durch den Hinweis, dass dies eben eine persönliche Sichtweise sei, in den Grundverdacht, deswegen auch schon wahr zu sein. Pluralismus, der sich nur als Praxis solch unreflektierter Subjektivität verwirklicht, wird keine Zukunft haben.

Wenn es hingegen darum geht, die positiven Formen von Pluralisierung zu entwickeln, ist ein doppeltes zu bedenken. Um der Wahrheit willen ist, wie es W. Welsch formuliert, auf eine "Praxis der Artikulation und Zuschärfung", eine "Praxis der Differenz und der Präzision" zu setzen. Um der Menschen willen, die durch eine systematische Orientierungslosigkeit kontinuierlich überfordert sind, ist darauf zu achten, dass die pluralistische Gesellschaft nicht zu einem unüberschaubaren und undifferenzierten Durcheinander wird, das unweigerlich Fundamentalismen verschiedenster Art generiert. Vielmehr muss sich um jeweilige Bestimmtheit sorgen, wer zur Vielfalt der pluralistischen Gesellschaft steht und sie produktiv mitgestalten möchte.

Wer also nur auf Bestimmtheitsverzicht und Bestimmtheitsverweigerung setzt, fällt in die Falle der Verwechselbarkeit. Kirche kann und soll sich vielmehr im vielschichtigen heutigen Pluralismus um eine distinkte Stimme mühen und nicht nur "zum allgemeinen religiösen Rauschen beitragen".

3.3. "Alles Pluralismus"

Sie kennen jene berühmten Worte "Alles Walzer", mit denen beim Wiener Opernball nach der Eröffnung das Tanzparkett für alle freigegeben wird. In Anlehnung daran soll der geläufige Gesamteindruck unserer Gesellschaft formuliert sein: "Alles Pluralismus". Also ein scheinbar klares Ja zur Vielfalt, zur unbegrenzt anerkannten Vielzahl von Optionen, kein bedrohliches antipluralistisches Wölkchen auf dem strahlendblauen Pluralismushimmel.

Nun trügt aber der Schein, es gibt deutliche Gegenbewegungen zum vielbeschworenen Pluralismus, die aber auf den ersten Blick nicht als solche erkannt werden. Man würde meinen, dass diese Gegenbewegungen unter Umständen Weggenossen sein könnten. Aber Sorgfalt ist angebracht und genaues Hinsehen zahlt sich aus.

  • Es seien hier zwei Phänomene genannt: Zum einen ist es der zunehmende Ökonomismus, der jedem Pluralismus nur solange förderlich gegenübersteht, als dieser nicht die Dominanz der Ökonomie gegenüber allen Lebensbereichen in Frage stellt. Er hat mit seinen Dogmen des unbegrenzten Wachstums und des "consumo, ergo sum" pseudoreligiösen Charakter bekommen und ist - zum Unterschied von fast allen anderen Anbietern - durchaus bereit, seinen Absolutheitsanspruch zu verteidigen.
  • Zum anderen ist es die Globalisierung mit ihren neuen Kommunikationsformen, die durch ihre ausgrenzende Wirkung gegenüber praktisch allen Armen dieser Welt deren ganz wichtigen Beitrag zu einer umfassend pluralistischen Lebenssicht systemisch ausschaltet. In ihrem Gefolge entsteht eine ausgesprochen pluralismusfeindliche, geradezu erschreckende Vereinheitlichung der kulturellen Verhaltensweisen, welche oft eine durch Jahrhunderte und Jahrtausende gewachsene Vielfalt verkommen lässt.

Diese an sich pluralismusfeindlichen Phänomene werden letztlich ebenfalls zu einer neuen Stärkung von Identitäten führen, allerdings nicht immer auf die sanfte Art, die hier und heute das Thema ist: Menschen werden - auch mit Gewalt - zu ergreifen suchen, was ihr gutes und gottgegebenes Recht ist: Mehr zu sein als Antriebskräfte wirtschaftlicher Prozesse; von Partizipation nicht ausgeschlossen zu sein; kulturelle - und damit auch nationale - Identität zu bewahren.

Wer hier nicht die Gabe der Unterscheidung kultiviert, tappt in die Pinocchio-Falle. Dieser hölzerne Hampelmann hatte, wie man übrigens vorzüglich ausgedeutet im Bestseller von Kardinal Biffi nachlesen kann, bekanntlich bei der Auswahl seiner Weggefährten größere Probleme.

All diese Überlegungen können keine Patentlösungen anbieten, wollen aber Anstöße zum Weiterdenken, vor allem zum Weitergehen sein. Denn der Grundauftrag der Kirche steht unter der großen Überschrift: "Darum geht zu allen Völkern ..." (Mt 28,19f), und unsere Kultur ist - mit Ortega y Gasset gesprochen - keine Herberge, sondern ein Weg.

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