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Karl Raphael Dorr t

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Prälat Karl Raphael Dorr, Dompfarrer von St. Stephan und Kanonikus der Erzdiözese Wien, ist am 5. März 1964 unerwartet gestorben; sein Tod hinterläßt eine kaum zu schließende Lücke; ein Beispiel dafür, daß auch und gerade in der Kirche Charismen des einzelnen eine Rolle spielen und Institution nicht Persönlichkeit zu ersetzen vermag.

Dorr entstammte einer Familie von Lehrern und bezog von dort her sein pädagogisches Talent. Er studierte in Münster in Westfalen bei Donders, dem gefeierten Domprediger und Homiletiker, die Kunst der Predigt, die er mit wissenschaftlichem Eifer und mit Akribie betrieb. Seine Tendenz war es, jedermann verständlich zu sein und dabei an Substanz des Theologischen nicht zu verlieren; bei solcher Dichte waren seine Reden luzid und handgreiflich. Im Studienjahr 1928129 lernte er in Deutschland Seelsorgemethoden kennen, die in Österreich noch wenig bekannt waren; er erweiterte seinen Horizont durch Besuche der Industriewelt und der Großstadt Berlin. Dorr konnte nicht nur lehren, sondern auch lernen; er konnte Prinzipien in Praxis umsetzen und ruhte nicht, bis die praktischen Effekte einer Theorie erzielt waren. Theorie hatte für ihn immer den Charakter der Anwendbarkeit. Von den nationalsozialistischen Machthabern nach Tübingen verbannt, studierte er dort bei Geiselmann und Franz Xaver Arnold, erwarb das Doktorat und vertiefte sich in den Geist J. A. Möhlers und John H. Newmans. Auch der Weg der Frömmigkeit wurde von ihm unter systematisch-pädagogischen Gesichtspunkten gesehen. Instrument der Praktizierung seiner Ideen waren nach 1945 das von ihm geschaffene Wiener Oratorium und die öffentlichen (Mas-sen-)Exerzitien, die er im Dom abhielt.

Dorr ist wie alle seiner Generation ein Schüler Dr. Karl Rudolfs, der durch seine geniale Gründung des Wiener Seelsorgeinstituts einer heute weltweit anerkannten Idee vom Primat der Seelsorge in der Kirche zum Durchbruch verhalf. Aus der Verbannung zurückgekehrt,strebte Dorr mit der Position des Dompfarrers die vollständige Neuorganisierung dieser zentralen und exemplarischen Pfarre an, an der schon Msgr. Gessl die ersten Reformversuche unternommen hatte. Dorr schuf eine Musterpfarre, die zugleich, weit über das territorial bestimmte Publikum hinaus, für die ganze Großstadt, nicht zuletzt für Intellektuelle, Anziehungskraft besaß. Er verstand es meisterhaft, Mitarbeiter zu gewinnen, zu mobilisieren und jedem seine entsprechende Funktion zuzuteilen; er selbst war ebenso ein Pfarrer der kleinen Leute, die um den Dom herum wohnen, wie der Politiker und Staatsmänner. Zu anderen Zeiten hätte er ohne Zweifel eine öffentliche politische Rolle gespielt. Seine Verwandtschaft mit niederösterreichischen Weinbauern und Gastwirten weckte in ihm ungewöhnliche organisatorische Talente und Energien, die dem raschen Wiederaufbau des Domes zugute kamen, der künstlerisch zwar nicht ganz geglückt, seelsorglich jedoch von erhöhter Verwendbarkeit wurde; die vorbildliche Organisierung des Beicht- und Aussprachewesens geht auf Initiative Dorrs zurück, ebenso die „Abendkirche“ mit ihrer nächtlichen Anbetung nach dem Vorbild von Sacre-Coeur am Montmartre in Paris. Dorr ging menschlich mit Menschen um, er war zugänglich und war kommunikativ veranlagt, er bewies in seiner Person, daß die Menschlichkeit Gottes in Christus Jesus, mehr als alle organisatorischen Maßnahmen, immer noch und für alle Zeiten das Grundprinzip aller Seelsorge sein wird.

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