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Katholisch-Theologische Fakultät Wien: Unsichtbare Religion sichtbar machen

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Gerade in einer säkularisierten Zeit gewinnt Religion neue Aufmerksamkeit in der Forschung. Eine interdisziplinäre Forschungsplattform an der Universität Wien geht der Frage | nach, wie sich die Religion auf gegenwärtige Transformationsprozesse in der Gesellschaft auswirkt. Und welche Rolle diese wiederum für Religion spielen.

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Gerade in einer säkularisierten Zeit gewinnt Religion neue Aufmerksamkeit in der Forschung. Eine interdisziplinäre Forschungsplattform an der Universität Wien geht der Frage | nach, wie sich die Religion auf gegenwärtige Transformationsprozesse in der Gesellschaft auswirkt. Und welche Rolle diese wiederum für Religion spielen.

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Religion ist wieder ein Thema in Europa, nicht nur wegen Kopftuchdebatte, Moscheenbau und Kindesmissbrauch. Die von Religionssoziologen angekündigte "Säkularisierung“ hat nicht stattgefunden. Es deutet eher vieles darauf hin, dass das religiöse Segment der Gesellschaft wieder wächst.

Allerdings erstarken nicht unbedingt die Religionen, die das Feld im vorigen Jahrhundert noch dominiert haben: Die religiöse Landschaft in Europa hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Das betrifft alle Regionen: Die ehemals kommunistischen Länder Mittel- und (Süd-)Osteuropas sind wieder offen für - ehedem unterdrückte - missionierende Bewegungen, im "Westen“ gibt es Neues nicht nur durch Migrationsströme.

Wir beobachten Phänomene wie den Import von früher als "exotisch“ betrachteten Religionen, der etwa mancherorts zur Erwartung eines neuen, "westlichen“ Buddhismus geführt hat. Breit diskutiert wird auch die Subjektivierung der Religion, oft unter dem Namen "Spiritualität“ abgehandelt, neuerdings mit dem Etikett "fluide Religion“ versehen. Damit ist eine Umstrukturierung des religiösen Bereiches der Gesellschaft nach Gesetzen des Marktes gemeint, orientiert an Angebot und Nachfrage.

Diskutiert wird auch die Diffusion der vormals religiösen Institutionen vorbehaltenen Transzendenzverwaltung in andere Segmente der Kultur. Die durch elektronische Medien mitbedingte Verfügbarkeit von früher nur Spezialisten vorbehaltenem Wissen über Religionen und deren zentrale Texte stellt einen weiteren einschneidenden Wandel in der religiösen Landschaft Europas dar. Es ist freilich zu vermuten, dass das religiöse Feld sich nicht abgekoppelt von gesamtgesellschaftlichen Prozessen verändert, sondern dass die Transformationen des Religiösen Antworten auf und Faktoren für sozialen, politischen und kulturellen Wandel sind.

Interdisziplinäre Ausrichtung

Es ist also anzunehmen, dass nur interdisziplinär ausgerichtete Forschungsprojekte eine umfassende Beschreibung und wissenschaftliche Analyse der jetzigen Lage geben können. Aussagekräftige Theorien über die Zukunft der Religionen im europäischen Kulturraum sollten auf dieser Grundlage entworfen werden. Die Forschungsplattform "Religion and Transformation in Contemporary European Society“ der Universität Wien antwortet auf diese für die Religionsforschung wohl neue Situation.

Es scheint unabdingbar, dass die in der Plattform vertretenen "klassischen“ Fächer, die sich Religionen widmen - Theologie, Religions- und Islamwissenschaft - verstärkt mit anderen Disziplinen, wie Philosophie, Gesellschafts- und Rechtswissenschaften zusammenarbeiten. Die Veränderungen, denen der religiöse Bereich unterliegt, wirken sich klarerweise auf Politik, Gesellschaftsstruktur und Weltanschauung aus und haben rechtliche Konsequenzen. Religionen, die aus Rechtsräumen kommen, in denen traditionellerweise verschiedene religiös begründete Rechtssysteme nebeneinander bestehen, sehen sich dem Anspruch eines säkularen Rechtsstaats gegenüber, dass alle Gruppen demselben Rechtssystem Genüge leisten.

Mit der damit einhergehenden Erwartung vonseiten des Staates gehen auch Anforderungen an die und Veränderungen der Organisationsformen von Religionen einher.

Gott nicht "tot“

So haben sich verschiedene buddhistische Richtungen zur Österreichischen Buddhistischen Religionsgemeinschaft zusammengeschlossen. Man kann sich auch fragen, wie sich im Falle einer Konversion das formale Recht, die Religionszugehörigkeit zu ändern, zum familiären und mikrosozialen Umfeld verhält, in dem Absolutheitsansprüche einzelner Religionen vielleicht stärker wirken als der Anspruch auf gegenseitige Toleranz.

Wie verändern sich die zentralen Werte, nach denen Menschen ihr Leben ausrichten, durch die genannten Transformationsprozesse? Nachdem Gott noch nicht "tot“ zu sein scheint, sondern das Konzept eines für den Kosmos letztverantwortlichen Ansprechpartners für viele immer noch entscheidende Orientierungshilfe bietet, was auch die Gegner der "Gottesidee“ in Gestalt sich organisierender Freidenker- und Atheistenbünde wieder auf den Plan ruft, ist uns die philosophische Reflexion dieser Jahrtausende alten europäischen Debatte wieder zur Aufgabe geworden.

Wie sich die bereits angesprochene neue Verfügbarkeit von religiösen Texten vieler Traditionen für jeden auf die religiöse Situation auswirkt, kann nur von Forscherinnen und Forschern beantwortet werden, die Rezeptionsprozesse "heiliger Schriften“, ihre Übersetzungen und Interpretationen in ihrer historischen Tiefendimension kennen.

Schiefe Perspektiven zurechtrücken

Welche Motive von Religionen bleiben etwa in Kunst und Literatur erhalten, auch wenn ihre Herkunft schon in Vergessenheit geraten ist? Verstärkt rückt auch ins Blickfeld, welche Rolle Religionen in gesellschaftlichen Inklusions- und Exklusionsprozessen spielen. Zugehörigkeit zu einer Religion verleiht soziale Identität. Gerade für Migranten kann die traditionelle Religion im neuen Umfeld zu einer Stütze der Integration der Gesamtpersönlichkeit werden.

Religiöse Zugehörigkeit kann aber auch zur sozialen Stigmatisierung führen. Dazu muss man nicht wieder den Islam bemühen. Es reicht, auf die öffentlichen Debatten rund um die Anerkennung von Jehovas Zeugen als Religion in Österreich hinzuweisen.

Was über Religionen im öffentlichen Diskurs verhandelt wird, stellt deren sichtbare Seite dar. Hier wird es die Aufgabe der Forschung sein, manch schiefe Perspektive zurechtzurücken. Vieles am religiösen Leben der Gegenwart ist aber, mangels Präsenz im Diskurs, sozusagen "unsichtbar“, wenn auch nicht ohne Auswirkung. Das Sichtbarmachen dieser "unsichtbaren Religion(en)“ gehört somit auch zu unserem Aufgabengebiet.

Für beide Fragen ist ein Forschungsprojekt "Kartographie der Religionen in Wien“ initiiert worden, das die religiöse Situation in Wien erhebt und die Daten der Öffentlichkeit zugänglich macht. Auf dieser Grundlage können dann gezielt Forschungen zu einzelnen Bereichen durchgeführt werden. Eine Vernetzung mit ähnlichen Projekten in anderen europäischen Ballungszentren ist geplant.

Der Autor lehrt Religionswissenschaft an der Kath.-Theol. Fakultät der Univ. Wien.

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