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Katholische Soziallehre—heute?

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Es würde nicht sehr schwierig und Im übrigen äußerst interessant sein, einen langen Aufsatz, ein ganzes Buch „Über den Gebrauch und Mißbrauch von Enzykliken und anderen autoritativen Texten“ zu schreiben. Die Katholiken haben sich immer bemüht und bemühen sich noch, unter Berufung auf päpstliche Texte, in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht mittels eigener Organisationen einen eigenen, originellen Kurs zu steuern. Die päpstlichen Texte geben dazu häufig Anlaß, ebenso häufig wurden sie aber auch auf mehr oder weniger subtile Weise umgedeutet. Die Argumente für die Absonderung der Katholiken auf politischer, kultureller und gesellschaftlicher Ebene sind im Grund sehr einfach: Es giht eine eigene, spezifisch katholische Soziallehre, die sich vom Sozialismus, Liberalismus usw. unterscheidet, und diese Lehre fordert eigene Organe: Verbände Programme, Parteien, um sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durchzusetzen.

Auf zweifache Weise wird diese Position heute radikal untergraben: vom soziologischen Standpunkt aus und durch die neuere Theologie.

Die soziologische Ideologiekritik kehrt die Sache genau um: ist die Lage nicht vielmehr so, daß es eine eigene katholische Doktrin angesichts der Politik, der gesellschaftlichen Ordnung usw. gibt, weil katholische Verbände auf verschiedenen Ebenen bestehen und diese sich selbst und ihre Position rechtfertigen müssen? Gibt es hier nicht ein bloßes Rechtfertigungsdenken, eine Ideolo-gisieruing der Religion im Dienst voo Interessen und Machtansprüchen, kurz: Ideologie im fast marxistischen Sinne? Das scheint mir eine beachtenswerte Hypothese, die im einzelnen verifiziert werden muß. Zwei Elemente zur Verifizierung möchte ich andeuten: Einerseits die Tatsache, daß sich eine detaillierte katholische Soziallehre hauptsächlich dort ausbildete, wo der Katholizismus gegliederte organisatorische Gestalt annahm. Anderseits das sogenannte Phänomen der „erschwerten Motivation“, die gleichsam eingeborene oder vielleicht eingetaufte Neigung vieler Katholiken, bei der Motivation ihrer Handlungen statt natürlicher, sachgemäßer Motive christliche, religiöse, dogmatische Motive anzuführen. Man könnte auch von „Moralismus“ reden.Allgemeine Orientierungen statt eines umfassenden: Systems

Die theologische Kritik findet ihre Ansätze in den jüngsten kirchlichen Dokumenten. Noch Johannes XXIII. verwendet in „Mater et magistra“ den Terminus „Soziallehre der Kirche“ ohne Bedenken und Einschränkungen. Heute aber konstatiert man, daß in den Konzilsdokumenten, vor allem in der Konstitution „Gaudium et Spes“ dieser Terminus mit einer Ausnahme absichtlich unterlassen worden ist. Ein französischer Kommentar der Pastoralkonstitution merkt dazu an: Man kann in der Tat nicht leugnen, daß das Wort „Soziallehre“ eine Gefahr und eine Zweideutigkeit aufweist: Eine Gefahr, insoweit damit eine synthetische Ganzheit, ein vollständiges System miteinander organisch verbundener Wahrheiten be-zeidhnet werden soll; eine Zweideutigkeit in dem Sinne, daß der Gebrauch dieser Formel dazu verführen könnte, die „Lehre“ der Kirche für eine Art intermediäre Ideologie zwischen Liberalismus und

Kollektivismus zu halten. Statt der klassischen Formel „doctrina socia-lis“ findet man im Konzilstext vagere und bescheidenere Umschreibungen. So unter anderem: „iustitiae et aequitatis principia, tarn pro vita individuali et sociali quam pro vita internationali, a recta ratione postulata, quae ecclesia sufo luce evangelii exaravit.“ Weiter noch sagt der Text, das Konzil wolle nur .einige Orientierungen bieten“, und unterstellt den zeitgebundenen Charakter dieser Orientierungen. Was die Kirche zu bieten hat, nennt der Papst nicht eine „christliche Soziallehre“, eine Doktrin für innerkatholischen Gebrauch, sondern „eine umfassende Sicht des Menschen und der Menschlichkeit“.

Hier meldet sich ein neues kirchliches „Selbstverständnis“, das u. a. das Ende der exklusiv hierarchischen Auffassung der christlichen Soziallehre bedeutet. Viele der traditionellen Lehr- und Handbücher sind im großen und ganzen fast nur „Enzy-klikologien“, wobei man vergißt, daß es sich bei Enzykliken oft um „Gelegenheitsäußerungen“ und nicht um allgemeine und verpflichtende Antworten auf alle Probleme handelt. Das eigentliche Sozialdenken in der Kirche findet sich vielmehr in den Auffassungen und Äußerungen derjenigen Gläubigen, die kraft ihrer spezifischen Kompetenz mit den gesellschaftlichen Problemen beschäftigt sind. Die amtliche Seite der Soziallehre ist nur die nachträgliche Konfirmation und eventuelle Rektifikation und zugleich die partielle Universalisierung dieser Einsichten.

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