Kein Platz für Leitkultur

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Über das Verhältnis von Religion und liberaler Demokratie.

Gibt es in der Politik einen Grundsatz, der sicherer und unangreifbarer ist als der, daß Anzahl und Autorität der Priester in sehr engen Grenzen zu halten sind und dass die bürgerliche Obrigkeit die Insignien ihrer Macht von so gefährlichen Händen stets fernhalten sollte?" David Hume, der in seinem Werk Dialoge über natürliche Religion sein Alter Ego, den Skeptiker Philo, so sprechen lässt, wusste nur zu gut um die leidvollen Spuren kirchlicher Machtentfaltung - war es doch religiöses Eiferertum, ja die Schottische Kirk selbst, die dafür sorgten, dass ihm zeitlebens eine Universitätsprofessur versagt blieb.

Historisch haben die Herrschaftsansprüche von Religionen nicht nur persönliche Schicksale geschaffen, sondern das öffentliche Leben polarisiert. Die Antwort der Aufklärung auf ungebetene Bekehrungsprogramme und Religionskriege war bekanntlich eine Staatskonzeption, die sich über die Trennung von Staat und Kirche definiert. Und der liberale Rechtsstaat versteht sich als der sorgsame Hüter dieser Tradition: Die Wahl einer religiösen oder religiös unbegnadeten Lebensform avanciert zum bürgerlichen Grundrecht. Religion gilt fortan als so genannte Privatsache.

Religion nur Privatsache?

Trotz des unbestrittenen Erfolgs dieser politischen Befriedung bleibt eine beunruhigende Frage: Lässt sich das, was man hier zur Privatsache erklärt, wirklich aus dem öffentlichen Raum verbannen? Verfehlt diese Lösung nicht die Bedeutsamkeit, die unzählige Menschen religiösen Überzeugungen zuschreiben? Wird die Idee von der Privatheit der Religion nicht tagtäglich durch eine weltpolitische Situation relativiert, in der die Wahrheitsansprüche von Religionen einmal mehr die treibende Kraft hinter gefährlichsten politischen Konflikten bilden? Wie genau hält es die liberal-demokratische Gesellschaft mit der Religion, wenn bei Ereignissen wie Papstbesuchen die öffentlichen Räume von Tausenden religiös gesinnten Menschen besetzt sind?

Präsentiert sich der liberale Staat nicht schizophren, wenn seine maßgeblichen politischen Repräsentanten dem obersten Vertreter der Kirchlichen Macht öffentliche Aufmerksamkeit und Würdigung zuteil werden lassen und die Medien tagelang die Ereignisse als Aufmacher werten und kommentieren? Was also soll die Formel von der Religion als individueller Gesinnungsform, wenn auch auf Wertepluralismus eingeschworene Demokratien offenbar zutiefst von Religion durchdrungen sind?

Wie stark diese Ambivalenz das Selbstverständnis demokratischer Gesellschaften berührt, verdeutlicht die entsprechende Kontroverse zwischen den zwei gegenwärtig bedeutendsten Sozialphilosophen, dem 2002 verstorbenen Amerikaner John Rawls und Deutschlands Parade-Philosophen Jürgen Habermas. Rawls hat sich in seinem Spätwerk intensiv mit der Religion auseinander gesetzt, da er erkannte, wie sehr die amerikanische Gesellschaft ungeachtet einer liberalen Verfassungsgeschichte religiös geprägt ist. Und Habermas hat im europäischen Kontext die Anerkennung des Stellenwerts religiöser Argumente in öffentlichen Diskursen eingemahnt. Diese für viele überraschend offene Haltung dokumentiert auch der Umstand, dass Habermas vor einigen Jahren einen intensiven Dialog über die moralischen Grundlagen demokratischer Verfassungsstaaten mit Kardinal Ratzinger, dem jetzigen Papst Benedikt XVI., geführt hat.

Rawls unterwirft religiöse Äußerungen erheblichen Einschränkungen. Sein Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs, das die Basis demokratischer Legitimität bildet, verlangt, politische Argumente und Begründungen den Grundwerten von Freiheit und Gleichheit anzupassen und sich einer neutralen Sprache unabhängig von besonderen Religionen und Weltanschauungen zu bedienen. Selbst wenn Menschen religiös sind, müssen sie ihre Argumente so freistehend von spezifisch religiösen Inhalten formulieren, dass ihre säkular gesinnten Mitbürgerinnen und Mitbürger diese nachvollziehen und grundsätzlich akzeptieren können.

Rawls' Vorschlag ist nicht unproblematisch, da er eine erhebliche Übersetzungsleistung verlangt, die religiösen Menschen eine Art Identitätsspaltung zumutet. Privat dürfen sie ihre religiösen Überzeugungen leben, öffentlich müssen sie sich religiös neutral verhalten. Streng genommen wird Religion von Rawls mit Fundamentalismus politischer Art gleichgesetzt. Doch weder entsprechen sich diese beiden Phänomene in allen Fällen noch wird damit der Religion auf der Ebene persönlicher und sozialer Sinnstiftung Rechnung getragen. Religiöse Gemeinschaften und Kirchen erfüllen erhebliche ethische Sozialisationsaufgaben und sorgen häufig für die Wahrnehmung sozialer Verantwortlichkeiten.

Bürde für religiöse Bürger

Laut Habermas benachteiligt Rawls' Demokratiekonzeption indirekt religiöse Menschen gegenüber liberal-säkularen Gesellschaftsmitgliedern; man könne von gläubigen Menschen nicht verlangen, ihre politischen Argumente völlig getrennt von ihren religiösen Grundsätzen zu rechtfertigen. Der liberale Staat darf, so Habermas, "die gebotene institutionelle Trennung von Religion und Politik nicht in eine unzumutbare mentale und psychologische Bürde für seine religiösen Bürger verwandeln." Habermas ist, was den Raum der Religionsgesinnung betrifft, erheblich großzügiger als Rawls.

Verständlich wird dies, bedenkt man, dass Habermas als der philosophische Chronist und Vordenker eines sich demokratisierenden Deutschland gar nichts anders kann als eine umfassende Diskursoffenheit zu postulieren, in der religiös fundierte und säkulare Meinungen gleichermaßen Platz finden können. Kriterium der Legitimität von Ansprüchen ist der vernunftbestimmte Konsens aller Bürgerinnen und Bürger, die als Bewohner demokratischer Gemeinwesen naturgemäß an kooperativer Kommunikation und reziproker Anerkennung interessiert sind.

Konsens nicht herstellbar

Rawls scheint ein solches Demokratiekonzept mit gutem Grund naiv, ja geradezu hanebüchen. Nicht alle im öffentlichen Raum vorgetragenen Positionen und Gründe sind verhandelbar. Die Zustimmung aller kann nicht das Kriterium für legitime Gründe sein, denn die Quintessenz demokratischer Verhältnisse ist gerade, dass Konsens über weltanschaulich heikle Fragen nicht herstellbar ist. Für Rawls ist es notwendig, den öffentlichen Diskurs bereits im Vorfeld auf zulässige und unzulässige Anliegen und Begründungen einzugrenzen. Man darf die Bühne öffentlicher Diskussion nicht mit solchen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen betreten, die jede vernünftige Einigung mit Andersdenkenden a priori verunmöglichen.

Fundamentalismus aller Art hat im demokratischen Rechtsstaat keinen Platz. Darüber sind sich auch Habermas und Rawls einig. Beider Konzeptionen greifen aber zu kurz, wenn es um die Mechanismen der Neutralisierung fundamentalistischer Einflüsse geht. Habermas vertraut auf die dialogischen Reflexions- und Lernleistungen religös gesinnter wie auch sakulär denkender Bürger.

Dies ist erheblich zu wenig, denn die Inszenierungen von Kommunikation und Diskussion verschleiern nicht selten eine aggressive Hintergrundstrategie, die letztlich die Privilegierung der eigenen Position verfolgt. Bedeutungen sind nicht leicht zu entschlüsseln. So ist im Falle religiöser Äußerungen nicht immer transparent, ob diese innere Überzeugungen reflektieren oder primär die unlauteren Ziele der Missionierung, Manipulation, Kontrolle und handfesten Machtausübung verfolgen.

Habermas und Rawls verlagern die Kriterien der legitimen Gesinnungsäußerung letztlich auf Personen: Habermas auf die kooperativen und redlichen Kommunikationspartner, Rawls auf die demokratisch-idealen politischen Repräsentanten, die ihre persönlichen Standpunkte hinter die öffentlich-neutrale Perspektive stellen. Während Habermas in der Blauäugigkeit eines unscharfen Demo-kratiekonzepts versinkt, wiederholt sich bei Rawls das Dilemma der Spaltung des Subjekts. Denn was tun, wenn die politischen Amtsträger selbst tief religiös sind und sie die Zumutungen der Neutralisierung schlicht als schweren Identitäts- und Integritätsbruch erleben? Österreichs Biopolitik kann als tragisches Exempel dienen, was geschieht, wenn die primär zuständigen politischen Amtsträgern ihre religiösen Überzeugungen zur Grundlage der Bioethik machen - und dies in dem ehrlichen Glauben, dass die Stimme eines Kardinals die Wahrheit verkörpert. Das denkwürdige Ergebnis war bekanntlich die völlige Isolation Österreichs auf der EU-Ebene.

Isolation in der Biopolitik

Dies der konkreten Person vorzuwerfen, ist nicht weiter sinnvoll, denn ehrliche Prinzipienfestigkeit kann man politischen Amtsträgern schlecht vorwerfen. Kritisieren kann man jedoch die demokratiepolitische Ignoranz, die eine Verlagerung des Disputs auf die deliberative Ebene verhindert und damit die legitime Beschränkung solcher Gesinnungskundgebungen untergraben hat. Pluralistische Gesellschaften lassen Menschen sehr viel sagen und mitteilen. Die Mechanismen der deliberativen Demokratie sind es, die solche Gesinnungskundgebungen letztlich einordnen: nämlich als persönliche Artikulationen, die eine Meinung neben anderen darstellen.

Aus der Geschichte ist es verständlich, dass die Begegnung hoher kirchlicher Würdenträger mit den Vertretern der weltlichen politischen Macht nicht selten als Relikt unausrottbar schlechter Angewohnheiten der Kirche wahrgenommen und beurteilt wird. Stabile demokratische Gemeinwesen können durchaus gelassen reagieren, auch wenn die öffentlichen Auftritte nicht eben bescheiden ausfallen: Es geht um nicht weniger aber auch um nicht mehr als das Einbringen bestimmter Argumente und Perspektiven in den öffentlichen Raum. Für Alleingänge und religiöse Leitkulturansprüche lässt der liberale Verfassungsbogen letztlich ohnehin keinen Platz.

Der eingangs zitierte David Hume (1711-1776), Großbritanniens berühmtester Philosoph, war zu Recht besorgt, denn er kannte Macht nur in der Person unberechenbarer Fürsten: mal paternalistisch gutwillig, mal despotisch unerträglich. Demokratische Rahmenbedingungen hätten seine Ängste vor der Zahl der Priester und ihren Herrschaftsambitionen nachhaltig besänftigt.

Die Autorin ist Professorin für Philosophie an der Universität Wien.

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