Keine Dogmen-Reiterei

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Paradebeispiel zeitgenössischer Religiosität: Das Grazer Musikfestival "Psalm 2003" füllte Konzertsäle und Kirchen. Was kann und soll die Religion bieten? Der Erfolg des Festivals provoziert diese Frage aufs Neue.

Musik transportiert das Heilige". Mit dieser lapidaren Behauptung im Programmheft geht am kommenden Sonntag, dem Ostersonntag der Ostkirche, ein Experiment zu Ende, das in Zeiten der permanenten Kirchenkrise bedenkenswerte Fragen aufwirft. Mit dem Projekt "Psalm 2003" füllte der styriarte-Intendant Mathis Huber Grazer Kirchen und Konzertsäle mit Menschen, die nicht allsonntäglich den Gottesdienst besuchen. Mit 18 Aufführungen "Psalm 2003" und drei großen Messiaen-Konzerten des steirischen-herbst-Intendanten Peter Oswald hat das Programm der Europäischen Kulturhauptstadt Graz in der Fastenzeit einen religiösen Schwerpunkt gesetzt, der international seinesgleichen sucht.

Was ist ein Gottesdienst?

Es begann am Aschermittwoch, und nicht nur Musik transportierte das Heilige. Als nach der abendlichen Aschenkreuzfeier im Grazer Dom Lesung und Bachkantate von einem leibhaftigen Muslimen interpretiert wurden, gab es klerikales Murren über den Titel des Auftritts: "Predigt" nannte das Programmheft die kurze Rede des bosnischen Dichters DÇzevad Karahasan. Derartige Ungehörigkeiten setzten sich fort. Barbara Frischmuth, Robert Schindel und Günther Nenning waren eingeladen, in Kirchenräumen zu "predigen", wovon nur der letztere als katholisch bekehrt gelten kann, aber als Laie laut römischer Vorschrift trotzdem nicht predigen dürfte. Allerdings: Es handelte sich im strengen Sinn nicht um Gottesdienste; oder doch? Wenn Bibeltexte nach Noten von Johann Sebastian Bach bis Arvo Pärt gesungen und zeitgemäß interpretiert werden, greifen kirchenrechtliche Unterscheidungen nicht mehr.

Im großen Minoritensaal, dem ehemaligen Sommerrefektorium des Klosters, waren die Sessel weggeräumt und große Teppiche ausgebreitet. Zur Feier des islamischen Ashura-Festes bequemte sich das Publikum zu türkischer Musik auf Pölstern sitzend und liegend, bis die traditionelle Süßspeise der Muslime vor dem riesigen Wandbild der jesuanischen Brotvermehrung serviert wurde. Fünf Wochen später war derselbe Saal Schauplatz des öffentlichen Sederabends, mit dem das jüdische Pesach-Fest eingeleitet wird, vor 250 Gästen, die nicht nur zum Zuhören, sondern auch zum Mitessen gekommen waren.

An den Kirchen vorbei

Eine derart gewagte interreligiöse Ökumene setzt sich dem Verdacht aus, einem allgemeinen Synkretismus zu huldigen. Aber der oberflächliche Blick trügt und verschleiert die Nähe der Religionen zueinander, die erst die Differenzen erkennen lässt. Die neue Helmut-List-Halle war mit Psalm-Begeisterten bis auf den letzten Platz gefüllt, als Mathis Huber jüdische, muslimische und christliche Vertonungen der davidischen Gesänge aufs Programm gesetzt hatte. Jede der "Psalm 2003"-Veranstaltungen gab der These des Wiener Pastoraltheologen Zulehner vom herrschenden "Megatrend Religion" Recht, und jede warf die Frage auf, warum dieser Trend an den Kirchen vorbeigeht.

Dabei wagte sich das Programm mit hohem Respekt vor dem Sinn der Feste bis in den Gottesdienst selbst vor. Psalmen, gregorianisch rezitiert und mit den Responsorien des Carlo Gesualdo eindrucksvoll kontrastiert, waren das Thema der drei Finstermetten unter dem Vorsitz der Grazer Bischöfe Kapellari und Lackner, zu denen in den Kartagen in die Franziskanerkirche geladen wurde - zu einem fast dreistündigen Programm bis zwei Uhr nachts. Sechs Stunden dauerte gar die Osternachtsfeier in derselben Kirche bis um Sonnenaufgang - ein wirklicher katholischer Gottesdienst und zugleich eine Konzertnacht hoher Qualität.

Freiheit der Interpretation

Die Gründe für den Erfolg solcher Programme sind kein Geheimnis: Hierarchische Gesichtspunkte haben kaum noch Gewicht; predigen soll, wer predigen kann, singen, wer singen kann. Religiös bewegte Menschen setzen sich der inquisitorischen Frage nach dem "rechten Glauben" nicht mehr aus, sondern fragen nach authentischem Zeugnis und professioneller Umsetzung.

Qualität bestimmt die Wahl. Daher kommt ein altes Prinzip wieder zur Geltung, das der Kirchenvater Laktanz wenige Jahre vor dem Toleranzedikt Kaiser Konstantins formulierte: "Die Religion ist das einzige, worin die Freiheit ihren Wohnsitz gewählt hat. Niemand kann gezwungen werden, etwas gegen seinen Willen anzubeten." Religiöse Zwangsmaßnahmen haben diesen Satz über Jahrhunderte vergessen gemacht. Heute ermöglicht er wieder, sich der Aura des Heiligen zu nähern, ohne zuerst dogmatische Bekenntnisse abzulegen.

Die Unbestimmtheit der Musik gibt die Freiheit der je eigenen Interpretation. Sie ist aber keineswegs ohne Inhalt; sie transportiert Texte und Erzählungen, aber keine Lehren und Vorschriften. In der Nacht vor dem Palmsonntag lieferte das Grazer Programm dazu ein überzeugendes Exempel: ein mittelalterliches Mysterienspiel zum Leben Jesu - Verkündigung und Geburt, Triumph und Verrat, Tod und Auferstehung. Die italienischen Bruderschaften des 14. Jahrhunderts, die solche Kirchentheaterstücke entwickelten, interessierten sich - wie auch die heutigen Zuschauer - für die story, nicht für die kirchenamtliche Deutung derselben.

Angebot statt Forderung

So auch in der Verkündigungsszene. Der Engel und Maria standen einander gegenüber - beide auf hölzernen Podesten wie aus einem Gemälde der italienischen Frührenaissance geschnitten. Marias Einwände beantwortete der Gottesbote in altertümlichem Italienisch mit dem Satz: Du gefällst Gott; er hat dich gewählt und will keine andere als seine Mutter.

In diesem Satz ist etwas von der Anerkennung des einzelnen Menschen ausgesprochen, ohne die heute kein Same der Verkündigung auf fruchtbaren Boden fallen kann. Kultur hat kein Recht, mit Forderungen aufzutreten, sondern muss sich der Frage stellen, welchen Gewinn sie vermittelt. Nicht was sie fordert, sondern was sie bietet, wird auch die Religion gefragt. Der Begegnung mit dem Heiligen dürfen keine Bedingungen vorgeschaltet werden. Gemeint und gewählt sein und darauf vor allen anderen Zumutungen frei zu antworten, darin besteht das Angebot, auf das Menschen heute warten.

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