Keine Rede von Selbstbestimmung

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Ein Widerspruch: Selbstbestimmung und Selbstvernichtung schließen einander aus. Daher gibt es auch kein Recht, die eigene Tötung zu verlangen.

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Ein Widerspruch: Selbstbestimmung und Selbstvernichtung schließen einander aus. Daher gibt es auch kein Recht, die eigene Tötung zu verlangen.

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Anke erlitt 1984 im Alter von 19 Jahren ein schweres gedecktes Schädel-Hirntrauma und lag 3,5 Jahre im Koma. Nach einer Odyssee durch neun Kliniken wurde sie 1989 von ihren Eltern nach Hause geholt.

Sie ist geistig völlig wach, aber körperlich schwerstbehindert, seit dem Unfall vollständig erblindet und "sieht" die Menschen mit ihrem Gehör. Eine Verständigung mit ihr ist über das sogenannte Anke-ABC möglich. Im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit wurde Anke interviewt: Frage: Was denkst du, warum du aus dem Koma erwacht bist?

Anke: Weil ich Hilfe von meinen Eltern bekommen habe.

Frage: Was denkst du, wenn du dein Leben vor und nach dem Koma vergleichst?

Anke: Ich möchte niemals wieder zurück. Ich denke, daß ich mehr sehen kann, wie ich heute lebe, intensiver. Wegen meiner Blindheit mußte ich lernen, mit meinem Herzen zu sehen.

Frage: Wünschst du dir manchmal, daß du niemals aus dem Koma erwacht wärest? Hätte man dich von der Beatmung abhängen sollen?

Anke: Nein, man sollte das Leben erhalten - so lange wie möglich.

Frage: Hältst du dein Leben für unwert?

Anke: Ich bin glücklich. Ich halte mein Leben nicht für unwert. Ich habe Eltern und Freunde. Warum sollte ich unglücklich sein?

Frage: Welchen Rat würdest du anderen geben, die unter der gleichen Situation leiden wie du und verzweifeln?

Anke: Ich kann nicht für andere entscheiden, was für sie gut ist.

Frage: Würdest du es akzeptieren, wenn sie nicht mehr länger leben wollten?

Anke: Ich würde sie fragen, warum sie nicht mehr länger leben möchten.

Norbert Hoerster hat soeben ein Buch mit dem Titel "Sterbehilfe im säkularen Staat" veröffentlicht, in dem er dafür plädiert, daß eine Tötungshandlung straffrei sein sollte, wenn jemand kein Überlebensinteresse mehr hat und sich selbst nicht töten kann, aber jemanden findet, der bereit ist, ihn zu töten. Im säkularen Staat - so Hoerster - kann es keinen Grund geben, das Selbstbestimmungsrecht, das nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht eines anderen kollidiert, einzuschränken. Hoerster ist sich dessen bewußt, daß die reine Sterbewunschäußerung mißbraucht werden könnte, und daher knüpft er die Zulässigkeit einer Fremdtötung an folgende drei Kriterien: * Der Betroffene befindet sich in einem Zustand schweren, unheilbaren Leidens.

* Der Betroffene wünscht die Tötung aufgrund freier und reiflicher Überlegung, die er in einem urteilsfähigen und über seine Situation aufgeklärten Zustand durchgeführt hat.

* Die Tötungshandlung wird von einem Arzt vorgenommen.

Ein Wiener Arbeitskreis mit dem Namen "Menschenwürdig sterben" veröffentlichte im Februar dieses Jahres ein Manifest für die Selbstbestimmung, das die Forderung nach Straffreiheit der Tötung auf Verlangen unter anderem mit der widersprüchlichen These begründen will: "Sterben ist ein integraler Bestandteil des Lebens - so das Manifest -, deshalb muß das Recht auf selbstbestimmtes Leben das Recht auf selbstbestimmtes Sterben im Rahmen unabänderlicher Zwänge einschließen."

Ist das, was Anke sagt, richtig? Oder haben Hoerster und der Wiener Arbeitskreis recht?

Die Befürworter der Euthanasie argumentieren vor allem mit dem unveräußerlichen Recht auf Selbstbestimmung, das so weit gehen soll, daß jeder ein Recht auf Selbstmord hat und im Falle der Unfähigkeit, sich selbst zu töten, mit der Hilfe anderer, meistens der Ärzte, rechnen dürfe. Natürlich solle die Sterbehilfe nur aus Mitleid und humanitären Gründen erfolgen. Die Frage ist aber, ob hier der Begriff Selbstbestimmung anthropologisch richtig verwendet wird? Und: Wie weit reicht eigentlich dieses Recht auf Selbstbestimmung?

Für den Christen ist es keine Frage, daß Selbstbestimmung Grenzen hat, daß er nicht alles tun darf, was ihm in den Sinn kommt. Der Christ hat das Beispiel Christi vor Augen. Der Sohn Gottes ist Mensch geworden, um für uns, für jeden einzelnen Menschen zu sterben, und uns damit den Weg zum Heil zu zeigen. Er hat uns den Weg der Liebe, der gleichzeitig der Weg des Opfers ist, vorgelebt.

Dies steht einer hedonistischen, auf Lustgewinn hinorientierten Selbstbestimmung diametral entgegen. Für den Christen war das Leben schon immer ein Geschenk Gottes und deshalb heilig und unantastbar. Dies bestätigt die Enzyklika Evangelium vitae (n. 52): "Gott fordert vom Menschen, dem er das Leben schenkt, daß er es liebt, achtet und fördert."

"Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt" (Dostojewskij, Die Brüder Karamasov). Wer nicht an Gott glaubt, der wird sich sehr schwer tun, die richtigen anthropologischen Dimensionen der Freiheit und die Grenzen der Selbstbestimmung zu verstehen. Es gibt allerdings auch einen rein philosophischen Zugang zu Gott und zur Würde des Menschen, dem für das Gespräch mit Andersdenkenden in der säkularen Gesellschaft besondere Bedeutung zukommt.

Philosophisch betrachtet ist Selbstvernichtung, das heißt Selbstmord, ebenso wie das Verlangen getötet zu werden, keine eigentliche Selbstbestimmungshandlung. Auch bei Kant ist der Selbstmord nicht Ausdruck von, sondern Absage an die Autonomie und Freiheit des Menschen, denn mit diesem Akt wird ja gerade das Subjekt von Freiheit und Sittlichkeit vernichtet.

Kant hat Autonomie als Selbstgesetzgebung der Vernunft definiert. Mit anderen Worten: Der autonome Mensch muß herausfinden, was vernünftig ist, und das ist auch das sittlich Richtige. Autonomie schließt Bindung an die Sittlichkeit konstitutiv ein. Die Autonomie einer unvernünftigen Selbstgesetzgebung wäre daher unsittlich und keine Autonomie mehr.

Das Selbstbestimmungsrecht setzt ein Selbst als Rechtssubjekt voraus, das sich selbst bestimmen kann. Ein Selbstbestimmungsrecht, das ein Selbstvernichtungsrecht einschließt, führt sich selbst ad absurdum, denn, wer sich tötet, bestimmt sich nicht zu etwas, sondern zu nichts und kann daher nie mehr über sich selbst bestimmen. Beide Rechte schließen einander also in gewisser Weise aus.

Der Versuch, das eine Recht mit dem anderen zu begründen, ist einfach grotesk. Wer für ein Selbstvernichtungsrecht plädiert, darf sich nicht einfach auf die Autonomie des Menschen berufen, ohne sich zu widersprechen.

Ein sozialethischer Gedanke verdeutlicht die Unsittlichkeit der Selbstvernichtung. Die Person ist nicht nur Individuum, sondern auch wesentlich Beziehung zum gesellschaftlichen Umfeld. Man kann erst "ich" sagen, wenn es auch ein "Du" gibt. Ja, unser "Selbst" schließt den "anderen" von Anfang an mit ein. Anerkannt und geliebt zu werden, gehört zu den primären geistigen Bedürfnissen des Menschen.

Selbstvernichtung ist deshalb nicht "nur eine private Angelegenheit", sondern immer auch eine soziale, ist nicht nur Selbstvergessenheit, sondern auch eine Ablehnung des "Du". Die Selbstmordhandlung bedeutet sprachlich "Ich kann mit dir nichts mehr anfangen; deine Liebe, deine Zuwendung genügen nicht, um mein Leben noch lebenswert zu machen, ich verzichte darauf und töte mich".

Selbstmord ist auch immer eine Absage an das menschliche Umfeld und an die Gesellschaft, ein Affront gegen sie. Auch deswegen ist Selbstmord unsittlich, weil man sich dadurch einer Liebespflicht und -verantwortung gegenüber den anderen in dieser Gesellschaft entzieht. Es wäre zu billig, dieses Argument mit dem zynischen Hinweis entkräften zu versuchen, daß es ja alleinstehende Menschen gibt, die niemandem abgehen würden.

Das Selbstbestimmungsrecht kann auch deswegen nicht zur Begründung der Tötung auf Verlangen herangezogen werden, weil es sehr zweifelhaft ist, ob der Sterbewunsch des Patienten immer als sein eigentlicher Wille angesehen werden darf. Die Erkenntnis des bevorstehenden Lebensendes löst Gefühle von Entsetzen, Schock, Angst, Wut, Verzweiflung und Depression aus. Jeder Arzt hat nach langjähriger Praxis die Erfahrung gemacht, daß schwerkranke Patienten oft den Mut verlieren und direkt oder indirekt, mehr oder weniger explizit den Wunsch äußern, nicht weiter behandelt werden zu wollen.

Manchmal handelt es sich nur um eine Klage, manchmal aber um einen bedingten Wunsch ("Wenn es so weiter geht, lassen sie mich sterben") und manchmal um eine klare Bitte oder gar einen Befehl, mit der Behandlung aufzuhören, denn es habe keinen Sinn mehr. Die ärztliche Praxis und viele Untersuchungen zeigen, daß dieser Wunsch meist nicht mit dem eigentlichen Willen des Patienten übereinstimmt und daß für gewöhnlich, sobald es dem Patienten besser geht, dieser sehr froh und unendlich dankbar dafür ist, daß der Arzt den Wunsch nicht ernst genommen hat.

Der Autor ist Geschäftsführer des Instituts für medizinische Anthropologie und Bioethik (Imabe) in Wien

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