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Keine Zweifel an der Echtheit

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Es sei dahingestellt, ob man bei den Untersuchungen am Turiner Tuch von einem Betrug sprechen kann: mit rechten Dingen ging es gewiß nicht zu.

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Es sei dahingestellt, ob man bei den Untersuchungen am Turiner Tuch von einem Betrug sprechen kann: mit rechten Dingen ging es gewiß nicht zu.

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Im Turiner Dom wird die wohl kostbarste Reliquie der Christenheit aufbewahrt. Seit der Reformator Calvin an ihrer Echtheit gezweifelt hat, gehört sie zu den zunächst zwischen den Konfessionen und heute quer durch alle weltanschaulichen Fronten am meisten umkämpften Gegenständen; seit 1898 die erste fotografische Aufnahme von dem Grabtuch gemacht wurde, ist die Reliquie zum wissenschaftlich am meisten erforschten Objekt überhaupt geworden. Eine Tatsache blieb bis heute geheimnisvoll: fotografiert man das Tuch, erhält man auf dem Negativ bereits ein Positiv. Nun kann man seine Kamera auf jedes beliebige Objekt der Welt richten, dieser Tatbestand wird sich kaum mehr wiederholen. Wer immer die Echtheit des Grabtuches anzweifelt oder bestätigt, muß von dieser unumstößlichen Tatsache ausgehen. Gleichwohl ist die Liste aller beteiligten Forscher lang, die meinen, daß dies außer acht gelassen werden kann. Solange aber kein zweiter Fall eines Negativbildes auch nur ähnlichen Charakters beigebracht werden kann, gibt es überhaupt keine Möglichkeit, etwas wissenschaftlich Endgültiges über das Tuch auszusagen.

Bei den Forschungen haben so ziemlich alle Zweige der Wissenschaft ihren Beitrag erbracht. Eine Hauptrolle kommt den Gerichtsmedizinern zu. Sie haben erwiesen, daß es sich bei dem Menschen um einen Gekreuzigten handelt, dessen Leidensspuren auf dem Tuch in allen Details mit der in den Evangelien geschilderten Passion übereinstimmen. Nachgewiesen wurde auch menschliches Blut der Gruppe AB positiv.

Weitere wichtige Informationen über das Grabtuch haben die Forschungen von Max Frei und von Jackson und Jumper ergeben. Der er-stere, Kriminologe und Palinologe, konnte über die Analyse des Blütenstaubs auf dem Grabtuch den Herkunftsort Palästina bestimmen. Jackson und Jumper haben mit einem Scanner die Dichte der verschiedenen Bildspuren gemessen und so eine perfekte Umsetzung des Bildes in die dritte Dimension erreicht. Wieder hat sich dabei das Grabtuch als ein Unikum erwiesen, denn eine solche Umsetzung gelang bisher mit keinem anderen Bilde in so perfekter Weise

Bei der Umsetzung des Bildes in die dritte Dimension ergaben sich über den Augen merkwürdige, auswuchsartige Erhöhungen, die sich zunächst nicht erklären ließen. Der Jesuit Filas hat dann das Negativ von einem Foto des Grabtuchantlitzes untersucht und auf der linken Augenpartie ein Zeichen und einige griechische Buchstaben gefunden, die sich als einer Münze des Kaisers Tiberius zugehörig erwiesen, die Pilatus in den Jahren 29-31 in Palästina prägen hat lassen.

Alle diese hier genannten Forschungsergebnisse waren bekannt, als man in den Jahren 1987 bis 1988 daran ging, mit einigen, wenige Zenti-mer großen, vom Grabtuchstoff abgeschnittenen Stücken, die C14-Metho-de zu dessen Datierung anzuwenden. Wie wohl bekannt, ergab dieser Versuch als Entstehungszeit für das Grabtuch die Zeit zwischen 1290 und 1360 an. Obwohl kein Archäologe in Datierungsfragen sich nur auf eine einzige Methode abstützt, und obwohl die C14-Methode nicht selten zu völlig falschen Ergebnissen geführt hat, wurde in fast allen Zeitungen der Welt und im Fernsehen dieses Ergebnis als wissenschaftlich gesicherte, absolut gewisse Entstehungszeit für das Grabtuch angegeben. Leider hat sich auch der damalige Kustos der Reliquie, Kardinal Ballestrero, davon so beeindrucken lassen, daß er als erster dieses noch keineswegs gesicherte Ergebnis am 13. Oktober .1988 während einer Pressekonferenz verkündet hat.

Nun kann man nicht nur berechtigte Zweifel an dem Ergebnis der in drei Laboratorien vorgenommenen Radiokarbontests haben, sondern auch an der Korrektheit der Vorgehensweise der daran beteiligten Wissenschaftler. Unverständlich ist, daß kein genaues Versuchsprogramm erstellt worden ist, an das sich alle Beteiligten zu halten gehabt hätten. Nicht zu verstehen ist, daß die an die Laboratorien abgegebenen Proben nicht zuvor von einem Notar bestätigt worden sind, daß sie wirklich vom Grabtuch von Turin herstammen. Unverständlich ist, daß die drei Laboratorien nacheinander die Radiokarbonproben vorgenommen haben und nicht unabhängig voneinander. Was aber am schwersten wiegt, ist die Tatsache, daß die eigentliche wissenschaftliche Veröffentlichung der Testergebnisse in einer dafür spezialisierten Zeitschrift immer noch aussteht. Die sogenannte Veröffentlichung in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift „Nature", läßt alle Fachleute für Datierungen mit der C14-Methode unbefriedigt. Ob man von einem regelrechten wissenschaftlichen Betrug reden kann, mag dahingestellt sein: ganz mit rechten Dingen ging es sicher nicht zu.

Eine unwissenschaftliche Vorentscheidung ging dem ganzen voraus: man wollte die Unechtheit der Reliquie nachweisen. Die richtige Einstellung wäre wohl die gewesen: mit ■ Hilfe des Grabtuches die C14-Metho-de selbst mit neuen Erfahrungen anzureichern, die zu ihrer Vervollkommnung führen.

Diesen Weg ist in den letzten Jahren der Russe Kouznetsov gegangen. Dieser Gelehrte hat sich die geschichtlichen Kenntnisse über das Grabtuch zunutze gemacht, insbesondere das, was wir über den Brand der Schloßkapelle von Cham-bery vom Jahre 1532 wissen. Er hat sich einen Stoff aus der Zeit Jesu aus Israel besorgt und ihn mit der C14-Methode datiert, und er erhielt dabei als Ergebnis als frühest mögliche Entstehungszeit das 2. Jahrhundert v. Chr. Dann hat er denselben antiken Stoff ähnlichen Bedingungen unterworfen wie denen, denen das Grabtuch beim Brand vom Jahre 1532 ausgesetzt war. Schließlich hat er den so bearbeiteten Stoff noch einmal mit der C14-Methode datiert, und der Stoff war nach dieser zweiten Datierung mehr als 700 Jahre jünger geworden. Die Forschungen von Kouznetsov sind ausführlich veröffentlicht worden. Somit haben sich die vorherigen Datierungen mit Hilfe der C14-Methode als nicht zutreffend erwiesen.

Für die Wissenschaft stellt sich daher erneut die Frage nach der Identität des Mannes, der in dem Grabtuch die Spuren seines Körpers hinterlassen hat. Schon im Jahre 1902 hat der Agnostiker Yves Dela-ge in Paris formuliert: „Christus hat sich selbst in das Grabtuch eingeprägt. Wer soll es sonst sein? Ein nach allgemeinem Gesetz wie Christus unter Qualen Hingerichteter? Wie soll man aber dann den Adel erklären, den man den Zügen dieser Gestalt ablesen kann?" Derselbe Yves Delage hat dann mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung, wobei er nur fünf auf dem Grabtuch erkennbare eindeutige Details jeweils mit 1:100 veranschlagt, gezeigt, daß die Wahrscheinlichkeit, daß eine andere Person als Jesus Christus für das Grabtuch in Frage kommt, das abnorme Verhältnis von 1:10 000 000 000 ergibt.

Das Turiner Grabtuch ist lückenlos dokumentiert, seit es um 1350 in Li-rey im nordöstlichen Frankreich aufgetaucht ist. Von dort bis zurück zum Begräbnis Jesu um 30 n. Chr. klafft eine große Dokumentationslücke. Um sie auszufüllen, müssen Orte ausfindig gemacht werden können, wo das Grabtuch sich mit größter Wahrscheinlichkeitaufgehalten hat. In diesem Zusammenhang kommt die Hauptrolle der Erforschung der Chri-stusbild-Ikonographie zu.

All das, was durch wissenschaftliche Erforschung zum gesicherten Wissensstand über das Grabtuch zu rechnen ist, konvergiert mit einer Arbeitshypothese, die ihrerseits nur so formuliert werden kann, daß sie den Evangelienberichten über die Erscheinungen Jesu nach seiner Auferstehung und den in ihnen enthaltenen Hinweisen auf seinen verklärten Leib entspricht. Daß damit noch kein Beweis der leiblichen Auferstehung Christi mittels des Grabtuches gegeben ist, erhellt aus dem Charakter einer immer vorläufigen, wissenschaftlichen Arbeitshypothese.

Hier scheiden sich die Wissenschafter in zwei Gruppen. Besonders die Theologen haben Scheu, die wissenschaftlich erarbeiteten Daten mit der Tatsache der leiblichen Auferstehung Jesu in Verbindung zu bringen. Wenn solche Wissenschafter, wie der überaus verdienstvolle, kürzlich verstorbene Grabtuchforscher Werner Bulst, die von der Echtheit des Tuches als Christusreliquie überzeugt sind, sich mit dem Turiner Linnen beschäftigen, dann bleiben sie ehrfurchtslos bei dem Augenblick stehen, in dem der Leichnam Christi ins Grab gelegt worden ist. Wenn irgend möglich suchen sie nach den rein natürlichen Ursachen der Bildentstehung, als ob ein glücklicher Zufall von mehreren, beim Begräbnis Jesu zusammengetroffenen Faktoren uns dieses authentische Christusbild beschert hätte.

Was die Wissenschaft an Einzelergebnissen zur Bildentstehung erbracht hat, wird dann ignoriert, wenn diese über eine natürlich nachprüfbare Gesamtursache dieses Bildes hinausführen. Eine solche Haltung entspricht wohl nicht mehr dem heutigen Stand der Naturwissenschaften. So sind es gerade Naturwissenschaftler, die die Bildentstehung auf dem Grabtuch viel leichter im Zusammenhang mit der Auferstehung Jesu sehen können als die Theologen.

Der Autor ist

Jesuit und Professor für christliche Kunstgeschichte in Rom.

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