6755619-1967_44_10.jpg
Digital In Arbeit

Kirche und Revolution

Werbung
Werbung
Werbung

Die Tage des Gedenkens an die russische Oktoberrevolution mögen sicher auch für die Kirche, das Christentum, Anlaß zur Bestandsaufnahme in Fragen Revolution sein. Eine Bestandsaufnahme über seine revolutionäre Kraft namens der Menschlichkeit und zugleich eine Prüfung des echten Anliegens und Wahrheitsgehaltes der marxistischen Sozialrevolutionären Idee. Daß wir damit ein eminent pastorales Thema berühren, weiß niemand besser als der praktische Seelsorger: Hat die Kirche nicht in 2000jähriger Geschichte versagt? Wo bleibt ihre soziale Utopie von einer besseren Welt? So allgemein formuliert und natürlich dann im jeweiligen Detail kehren die Einwände und Fragestellungen gegen die Kirche in der seelsorglichen Praxis wieder. Und kann man sie wirklich mit einer (kirchenhistorischen) Apologie ganz lösen? Bleibt nicht zumindest ein Rest sozialen Versagens? Auch ein „Schuldbekenntnis“ ist da zuwenig, wo der Wille und Weg zum sozialen Fortschritt gefordert sind.

Wer ist revolutionärer?

Einer der meist gehörten Titel beim letzten marxistisch-christlichen Dialog der Paulusgesellschaft in Marienbad war der der letzten Sozialenzyklika Pauls VI. über die Entwicklung der Völker, natürlich zumeist mit „Fortschritts“-Enzyklika charakterisiert. Die Kirche auf einmal für den Progreß, ja selbst für die Revolution, das war den marxistischen Gesprächsteilnehmern ein ganz neuer Aspekt! Die Gesprächsatmosphäre war geprägt von der unausgesprochenen Frage, wer ist revolutionärer, wer leistet für die Befreiung des Menschen mehr, das Christentum oder der Marxismus? Daß diese Frage für den Marxisten überhaupt entstehen konnte, war die Nachwirkung der Erscheinungen des Stalinismus.

Es war, dies sei noch in Erinnerung an Marienbad bemerkt, dort gar nicht die Frage nach einem gesellschaftlichen Rückzug der Kirche, so als ob die Kirche in einer säkularisierten Welt keinen Sozialauftrag mehr hätte, keine politische Sendung. J. B. Metz fand die mutigen Worte: „Wenn christliche Liebe sich gesellschaftlich mobilisiert als unbedingter Wille zur Gerechtigkeit

und zur Freiheit für die anderen, dann kann unter Umständen gerade diese Liebe selbst revolutionäre Gewalt gebieten. Wo ein gesellschaftlicher Status quo ebensoviel Ungerechtigkeit enthält wie eventuell entsteht, wenn er revolutionär ab-

geschafft wird, kann eine Revolution — für die Gerechtigkeit und Freiheit ,der geringsten unter den Brüdern' — auch im Namen der christlichen Liebe nicht unerlaubt sein.“

Tradition und moderne Entwicklung

Die traditionelle christliche Theologie und Ethik sah die theoretische Begründung der Revolution Im Zusammenhang mit dem Widerstandsrecht. Daher sprach sie nicht von einem Recht auf Revolution im Rousseauschen Sinn, sondern ging

vom Gedanken aus, daß andauernde Tyrannei selbst als eine „seddtio“ bezeichnet werden könne und der Widerstand des Volkes dagegen unter bestimmten Umständen hinwieder ein „obrigkeitlicher Akt“ würde (Thomas v. A.).

Eine lehramtliche Äußerung • zur Frage der Revolution findet sich in unserem Jahrhundert zunächst im Brief Pius' XL an die mexikanischen Bischöfe aus dem Jahre 1937. Nur schwerer Machtmißbrauch, der die Gefahr staatlichen Untergangs in sich trüge, berechtige zum entsprechenden (die Bedingungen werden genannt) Widerstand der Bürger zu ihrem Schutz wie ebenso zur Rettung der Nation. Freilich hat es viel mehr Aufsehen erregt, als heuer Papst Paul VI. in seiner Enzyklika „Populorum progressio“ (Nr. 31) in Fortsetzung der schon dazu geäußerten Gedanken der Konzilskonstitution „Gaudium et spes“ im Falle „offenbarer und dauernder Gewaltherrschaft“ durch welche die Grundrechte der menschlichen Person verletzt würden und das Gemeinwohl einer Bürgerschaft (civi-tas) schweren Schaden (detrimen-tum) litte, auf die Möglichkeit der Erhebung (seditiones et motus) aus sozialen Gründen hinwies.

Aus dem Zusammenhang ist eindeutig klar, daß hier auch die sozialen Rechte des Menschen angesprochen sind, insbesondere die wirtschaftlichen und sozialen Dimensionen des Gemeinwohls, daß nicht nur politische bürgerliche Freiheitsrechte oder Freiheit der Kirche und Religion gemeint sind. Das war nach den jahrzehntelangen päpstlichen Warnungen vor den „Umstürzlern“ der Sozialordnung ein neuer Akzent, obwohl er an sich nicht gegen die Tradition steht.

Die gesellschaftliche Krise des Christentums

Die sozialen Entwicklungen und Umbrüche im 19. Jahrhundert stellten in der industriellen Gesellschaft bereits die Sonderform einer politischen Revolution, nämlich die soziale Revolution, in den Vordergrund. Nach Karl Marx wird der Ausdruck der Revolution der Klassenkampf aus sozialen Gründen. Damit wird die Sozialrevolution zur „Lokomotive der Geschichte“ gleichsam in Permanenz. Im 19. Jahrhundert stieß der Marxismus nun in ein Vakuum katholischen politischen Revolutionsbewußtseins vor: die Kirche fühlte sich im „Bollwerk“ des Abwehrkampfes gegen die „umstürzlerischen Mächte und Tollheiten“ zunächst noch im Bund mit den Feudalmächten und als Verteidigerin angestammter Rechte der Legitimität. „Göttliche und menschliche Rechte wenden sich daher gegen jene, die durch ihre schändlichen Vorsätze zur Abwehr und Empörung die Menschen zum Ungehorsam gegen die Fürsten reizen und diese selbst ihrer Herrschaft berauben wollen.“ (Enzyklika „Mirari vos“.) Jetzt rächte sich auch, daß die Scholastik über Umfang und Bedeutung des Gemein-wohlbegrifles wenig nachgedacht hatte und die auf dem Staatsoptimismus des Aristoteles fußende Gemeinwohllehre des heiligen Thomas v. A. nicht weiter entfaltet hatte, vor allem nicht in ihrer Sozial- und Gerechtigkeitsdimension. Während das geistige und politische Bewußtsein dieser Zeit bestimmt ist durch die geistig-politische Einordnung der Revolution, ist die Antwort der Kirche vielfach eine matte Ergebenheitspredigt mit der Vertröstung auf die Endzeithoffnung! Auch die Ansätze zur Sozialreform kommen erst Ende des Jahrhunderts in der Kirche zum Tragen.

Von der Antwort der Kirche auf die Lebensfragen der Neuzeit, eine solche ist die Revolution!, wird aber ihre Stellung in der industriellen Welt der Zukunft entscheidend abhängen. Es ließen sich hier interessante Parallelen zwischen Ost-und Westkirche ziehen. E. Benz (Die russische Kirche und das abendländische Christentum.) kommt zum Urteil, im 19. Jahrhundert sei die Kirche im Osten im liturgischen Zeremoniell und im Westen in Lehre und Konvention erstarrt. Die Folge mußte sein, daß christliches Gemeindeleben nur noch in Randzonen existiere.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung