6717625-1964_50_14.jpg
Digital In Arbeit

KIRCHENMUSIK AM SCHEIDEWEG

Werbung
Werbung
Werbung

Wer in den letzten Monaten verschiedene kirchenmusikalische Fachzeitschriften durchgeblättert hat, mußte einige besorgniserregende Feststellungen machen. Schon lange vorhandene Mißverständnisse und Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vertretern der liturgischen Erneuerungsbewegung und den Kirchenmusikern erweisen sich als so stark und tiefgreifend, daß die in der gegenwärtigen, durch die liturgische Konstitution des Konzils bestimmten Situation so entscheidend wichtige Zusammenarbeit als ernstlich in Frage gestellt erscheint; und das muß zweifellos beiden Teilen zum Schaden gereichen. Anderseits könnte sich aber gerade diese Polarität der Auffassungen als fruchtbar und nützlich erweisen, wenn endlich das gemeinsame Gespräch aufgenommen würde, auf das viele schon seit Jahren vergeblich gewartet haben. Schließlich war ja doch schon seit mindestens einem Jahrzehnt vorauszusehen, was nun durch die Entscheidungen des Konzils Wirklichkeit geworden ist. Die erste Voraussetzung für das gemeinsame Gespräch ist das von beiden Seiten dringend zu fordernde Emstnehmen des „Gegners” und der Versuch, auf seine Argumente wirklich einzugehen und sie zu verstehen. Gestritten wird ja schließlich nicht aus purer Freude am Streit oder aus dem schadenfrohen Bestreben, den anderen fertigzumachen. Es tritt vielmehr jeder verantwortungsbewußt und leidenschaftlich für „seine Sache” ein. Bei dieser „Sache” handelt es sich aber gar nicht um zwei verschiedene Gegenstände, die nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen wären, sondern um den offiziellen Gottesdienst der Kirche, um die Liturgie, „deren Wirksamkeit kein anderes Tun der Kirche an Rang und Maß erreicht”, wie die liturgische Konstitution (Artikel 7) feststellt, und die den „Gipfel, dem das Tun der Kirche zustrebt und zugleich die Quelle, aus der all seine Kraft strömt” (Art. 10), darstellt.

Die Entscheidungen des Konzils und die dadurch angebahnten liturgischen Entwicklungen haben viele Kirchenmusiker mit ernster Sorge erfüllt. Das wird besonders deutlich aus dem Beitrag von Msgr. Dr. Franz Kosch, „Bedroht das Vatikanische Konzil unsere traditionelle Kirchenmusik?” (Singende Kirche, Dezember 1963, S. 53 ff.), und aus dem beachtenswerten Aufsatz von Prof. Dr. Emst Tittel, „Wird unsere Kirchenmusik noch Kunstmusik bleiben?” (Singende Kirche, September 1964, S. 13 ff.). Die Vertreter der liturgischen Emeuerungsbewegung hingegen haben die Entscheidungen des Konzils einhellig als eine offizielle Bestätigung ihrer jahrzehntelangen Bemühungen angesehen und als eine Wende zu neuem und blühendem liturgischen Leben in der Kirche lebhaft begrüßt, da nun seit nahezu vierhundert Jahren bestehende und unüberschreitbar scheinende Schranken großzügig und weitschauend wieder geöffnet wurden. Diese beiden voneinander so Verschiedenen Reaktionen kommen aus einer je ganz bestimmten und von der-anderen abweichenden Auffassung vom Gottesdienst, der wiederum ein ganz bestimmtes Verständnis vom Wesen der Kirche zu Grunde liegt.

Die Vertreter der liturgischen Bewegung sehen in der Liturgie in erster Linie den Gottesdienst der Kirche, als des gesamten, hierarchisch gegliederten Volkes Gottes, das zur „bewußten, tätigen Teilnahme an den liturgischen Feiern kraft der Taufe Recht und Amt besitzt” (Art. 14) und daher auch aus dem passiven „der Messe beiwohnen” oder „die Messe hören” zu tätiger äußerer und innerer Mitfeier hingeführt werden muß. Die Kirchenmusiker sehen in der Liturgie in erster Linie den Gottesdienst der Kirche, für den das Höchste aufgeboten werden muß, was menschliche Kunst und menschliches Können zu leisten vermag. Das Konzil hat auch diesen Aspekt keineswegs übersehen und fordert: „Der Schatz der Kirchenmusik möge mit größter Sorge bewahrt und gepflegt werden” (Art. 114).

Beide Gesichtspunkte sind berechtigt, doch kommen die aus ihnen erhobenen Forderungen zwangsläufig miteinander in einen gewissen Konflikt: Die aktive Teilnahme des gesamten Volkes an der Liturgie, und damit konsequenterweise auch am liturgischen Gesang, verlangt nach einfachen, leicht vollziehbaren Formen und nach einer möglichst weitgehenden Verwendung der Muttersprache in der Liturgie. Die Forderung nach dem Einsatz höchster Kunst wird hingegen immer zur Folge haben, daß das Kirchenvolk als Liturgie feiernde Gemeinde zurücktreten muß, um einem Chor (eventuell auch Soli und Orchester) die Ausführung der Gesänge zu überlassen. Es scheint also das Problem auf eine Alternative hinauszulaufen: entweder Volksgesang oder Kunstgesang (das heißt Chorgesang).

Die Praxis der letzten Jahrzehnte hat aber vor allem in Österreich bereits zur Genüge gezeigt, wohin dieses Entweder-Oder führen muß. Die tragische Isolierung von Gemeinde und Chor, die beiden Teilen und schließlich auch der Liturgiefeier an sich ungemein schadet, belastet bereits viele Pfarreien. Ein bezeichnendes Symptom dafür ist, daß junge Leute, die aktiv im pfarrlichen Leben mitwirken, häufig nicht zu bewegen sind, im Kirchenchor mitzusingen und daß anderseits viele Chorsänger sich am Volksgesang grundsätzlich nicht beteiligen. Die Form der mit deutschen Liedern gestalteten Betsingmesse oder des deutschen Hochamtes hat wohl den Gemeinden der Gläubigen breiten Anteil am Kirchengesang geboten, doch ist dieser Gesang, vom künst- lerischrästhetischen Gesichtspunkt aus beurteilt, oftmals hor- ribel (zu langsam, zu zerrissen, unkultiviert, ganz zu schweigen von der oft indiskutablen Auswahl der Lieder) und außerdem nach den geltenden Bestimmungen nicht ein liturgischer Gesang im eigentlichen Sinn, sondern ein Gesang zur Liturgiefeier. Die künstlerisch perfekte und den Rubriken entsprechende Form des mehrstimmigen lateinischen Hochamtes wird aber von der überwiegenden Mehrheit des Kirchenvolkes — und auffallenderweise häufig von den aktivsten Kräften des pfarrlichen Lebens — mehr und mehr gemieden, weil sie darin zum schweigenden Zuhören verurteilt sind oder bestenfalls — und das noch selten genug! — bei den Responsorien mitsingen dürfen.

Aus diesem Dilemma einen Ausweg zu finden, ist heute eine ganz vordringliche Aufgabe. Die wichtigste Voraussetzung für eine kirchenmusikalisch und liturgisch gedeihliche Weiterentwicklung ist das Zusammenführen von Chor und Gemeinde.

Den Kirchenmusikern und den Chorsängern muß es zum überzeugten Bewußtsein gebracht werden, daß es nicht ihre Aufgabe ist, die Liturgiefeier zu verschönern, sondern sie selbst mitzutragen. Sie haben daher im Kirchengesang nicht eine in erster Linie musikalische Aufgabe zu erfüllen, sondern eine kultische Funktion, zu der sie als Glieder der Gemeinde durch Glauben und Taufe befähigt und berechtigt sind. Sie stehen also im gottesdienstlichen Vollzug nicht der Gemeinde gegenüber, wie etwa der Lektor, der Diakon oder der Priester, wenn sie der hörenden Gemeinde das Wort Gottes verkünden, sondern mitten in ihr, wobei ihnen freilich durch besondere Begabung und besonderes Können eini besonders verantwortungsvoller Dienst an der Gemeinde zufällt. Wie die Kirchenmusik von ihrem Wesen her der Liturgie, also dem Gottesdienst der Kirche, eingeordnet ist (von Unterordnung zu sprechen ist unrichtig!), so ist auch der Chor der Kirchengemeinde eingegliedert. Die Kirchenmusik fängt also keineswegs erst dort an, wo die Gemeinde zu singen aufhört — heute könnte man diesen Satz auch tröstend umkehren: Die Kirchenmusik wird keineswegs dort auf hören, wo die Gemeinde selbst zu singen beginnt —, sondern sie ist zuallererst Gemeindegesang.

Wenn nun die neuen liturgischen Bestimmungen ausdrücklich feststellen, daß die liturgische Handlung „ihre vornehmste Form” annimmt, „wenn der Gottesdienst feierlich mit Gesang gehalten wird und das Volk tätig teilnimmt” (Art. 113), das heißt mitsingt, dann darf daraus nicht geschlossen werden, daß dem Chor nun seine Aufgaben weggenommen sind, sondern im Gegenteil, es wachsen ihm neue Aufgaben zu, die aber eigentlich gar nicht neu, sondern uralt sind, doch weithin vergessen waren. Die Gemeinde bedarf des Chores zum Gesang.

Die Grundaufgabe jedes Kirchenchores, ebenso wie der alten schola cantorum, ist der Dienst am Gesang der Gemeinde und nicht die Vertretung oder gar Verdrängung der Gemeinde im Gesang. Für die traditionsreichen Kirchenchöre besonders in Österreich und Süddeutschland bedeutet das zweifellos eine gewisse grundsätzliche Umstellung, aber keineswegs eine Degradierung. Es ist vielmehr eine echte Bereicherung, die freilich zunächst gesinnungsmäßig vollzogen werden muß. Hier kann nun auf die Mitwirkung der Seelsorger keinesfalls verzichtet werden.

Wenn Seelsorger heute oft darüber Klage führen, daß die Kirchenchöre ein exklusives Leben am Rand oder gar außerhalb des pfarrlichen Gemeindelebens führen, dann sollten sie die Ursache dafür gerechterweise bei sich selbst sehen; denn die Sorge um das rechte Selbstverständnis des Kirchensängeramtes und die Einführung der Kirchenmusiker in ihr liturgisches ministerium ist ihre Sache. Es soll aber Kirchenchöre geben, die schon jahrelang ihren Pfarrer nur am Altar zu Gesicht bekommen, aber niemals bei einer Chorprobe.

Dienst am Gemeindhgesang bedeutet’ nun keineswegs, daß sich die Chorsänger ausschließlich in den einstimmigen Volksgesang zu mischen hätten, um diesem Schwung und Farbe zu verleihen; — kein Chorsänger sollte es aber anderseits unter seiner Würde finden, auch das zu tun (es soll nämlich Kirchensänger geben, die nur dann im Gotteshaus erscheinen, wenn der Chor etwas „aufführt”). Jede Form der Mitwirkung des Chores oder einer Schola, die der Gemeinde hilft, ihre eigene Rolle in der gesungenen Liturgie besser (auch qualitativ besser!) zu vollziehen, ist Dienst an der Gemeinde. Die verschiedenen und mannigfaltigen Möglichkeiten, Chor und Gemeinde im Wechsel nacheinander oder gemeinsam miteinander einzusetzen, sind hier noch kaum versucht, und manche Versuche sind leider künstlerisch ausgesprochen schwach, so anerkennenswert der Vorstoß auch ist.

Es wäre ungerecht, den anerkannten Komponisten der Gegenwart Unfähigkeit oder Interesselosigkeit vorzuwerfen, wenn sie in ihren kirchenmusikalischen Schöpfungen die Gemeinde als Träger des liturgischen Gesanges einfach übergehen. Sie müssen — ebenso wie die Architekten, die sich mit dem Bau neuer Kirchen befassen — in das theologische Gespräch über die Kirche und ihren Gottesdienst einbezogen werden. Erst dann dürfen wir von ihnen Aussagen erwarten, die nicht nur in künstlerischer, sondern auch in theologischer Sicht als zeitgemäß angesprochen werden können. — Wo finden sie aber Gesprächspartner?

Das anzustrebende ideale Miteinander von Chor und Gemeinde im gesungenen Gottesdienst muß aber die Vertretung der Gemeinde durch den Chor, wie er in den letzten Jahrhunderten geradezu zur Regel geworden ist, keineswegs immer ausschließen. Das regelmäßige Miteinander im liturgischen Vollzug wird aber ein wirksamer Schutz dagegen sein, daß die Vertretung zur bedrohenden Verdrängung wird. Die Gemeinde, die Sonntag für Sonntag geführt durch ihren Chor und mit ihm den Kirchengesang vollzieht, und zwar ihre eigene Rolle in der Liturgie ausübt und nicht nur wie bisher die Liturgie durch ihren Gesang begleitet, wird selbst darnach verlangen, zu bestimmten Anlässen, seien es nun die Hochfeste oder andere besondere Ereignisse, seine eigene Rolle dem Kirchenchor zu überlassen, um sie durch ihn in höchsten künstlerischen Formen ausführen zu lassen, die sie selbst nicht leisten kann, die sie aber mit Recht auch geleistet wissen will. Die Gemeinde wird sich aber dadurch nicht entlastet oder „für heute von der Mitfeier beurlaubt” oder gar verdrängt fühlen, sondern sich selbst in ihrem Chor repräsentiert sehen. Bedenklich ist nicht die Vertretung an sich, sondern die Ausschließlichkeit der Vertretung.

Die künstlerischen Hochformen der Gottesdienstfeier werden gewiß in der Zukunft seltener sein. Das müßte aber eine sehr heilsame qualitative Werkauslese zur Folge haben und auch die Möglichkeit bieten, Routine durch echte künstlerische Hochleistung zu ersetzen.

Der kostbare Schatz unserer Kirchenmusik wird also gewiß nicht dadurch bewahrt werden, daß sich seine Hüter gegen die liturgische Erneuerung zur Wehr setzen oder sich resignierend aus der Kirche in den Konzertsaal zurückziehen, sondern gerade durch ihre bereitwillige Mitwirkung am liturgischen Erneuerungswerk, das die Kirche nun im Konzil kühn in Angriff genommen hat und das auf die besten Kirchenmusiker gar nicht verzichten kann.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung