Kleines Lob der UNGLEICHHEIT

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Wer gegen die Gleichheit argumentiert, setzt sich dem Vorwurf mangelnder sozialer Empathie aus. Aber vielleicht ist die Gleichheitsideologie gar nicht so sozial, wie sie tut.

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Wer gegen die Gleichheit argumentiert, setzt sich dem Vorwurf mangelnder sozialer Empathie aus. Aber vielleicht ist die Gleichheitsideologie gar nicht so sozial, wie sie tut.

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Es ist noch immer die prägnanteste Kritik an Gleichheitsfantasien und -ideologien aller Art: "bis alles gleich, ei ja, weil alles niedrig", lässt Franz Grillparzer seinen Rudolf (II.) im "Bruderzwist" sagen. Solches zu zitieren, wird gern als bildungsbürgerliche Attitüde abgetan - was in sich stimmig ist, weil auch der "Bildungsbürger" (der sich selbst freilich nie so nennen würde) den Apologeten der Egalität ein Dorn im Auge ist. Das Zitat trifft dennoch in knappestmöglicher Form den Punkt: Gleichheit gibt es nur auf niedrigem Niveau; Ungleichheit hingegen erzeugt jene produktive Spannung, jene Dynamik, die qualitatives und quantitatives Wachsen, Fortschritt, Entwicklung erst möglich machen.

Aber sind das nicht abstrakte, theoretische, weltfremde Überlegungen - angesichts der realen Ungleichheit und Ungerechtigkeit, wie sie sich in mannigfaltiger Weise tagtäglich zeigt? Und ist die Gleichheit nicht gewissermaßen geadelt als Teil der Trias von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, welche als Losung von Aufklärung und Französischer Revolution (bis heute der Wahlspruch der Französischen Republik) firmiert?

Chancen- vs. Ergebnisgleichheit

Um bei Letzterem zu beginnen: Gewiss sind diese drei Begriffe Errungenschaften, die freilich auch stets gefährdet sind und um die daher stets aufs Neue gerungen werden muss, die solcherart also immer auch Ziele bleiben. Man darf dabei allerdings ungeachtet des mit diesem Dreigestirn verbundenen Pathos nicht übersehen, dass sich diese Begriffe nicht einfach nur ergänzen, sondern dass sie in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, insbesondere Freiheit und Gleichheit.

Dies gilt nicht, wenn man unter Gleichheit jene der Würde und der grundlegenden Rechte jedes einzelnen Menschen versteht. Doch darum geht es in den gängigen (Un-)Gleichheitsdiskursen meist nicht. In deren Fokus steht vielmehr, was man Ergebnisgleichheit nennen könnte. Als probates Mittel zum Erreichen dieses Zieles gilt gemeinhin "Umverteilung" - in wirtschafts-, bildungs-, sozialpolitischer Hinsicht. Der Grundgedanke ist immer derselbe: Man muss den einen (den "Reichen") etwas wegnehmen, damit es den anderen (den "Armen") besser geht. Wobei die sogenannten "Reichen" immer die anderen sind, gewissermaßen abstrakt bleiben - unter denen alle anderen, "wir alle", leiden.

Solcherart entsteht ein (Selbst-)Bild einer ganzen Gesellschaft, die sich tendenziell als übervorteilt und unterprivilegiert betrachtet. Der Philosoph Peter Sloterdijk warnt in diesem Zusammenhang vor "miserabilistischen Selbstbeschreibungen", man dürfe die Menschen nicht "in einer falschen Tonlage" ansprechen, so Sloterdijk in einem Interview mit der Zeitschrift Schweizer Monat. Und er ortet eine "fast verächtliche Beziehung zu den selbsthelferischen Tugenden [...], die den Menschen innewohnen".

Entscheidend sei die Frage, was der Mensch ist: "Ist er von Haus aus ein armes Vieh, dem man eine Art bedingungslose Garantie der Durchfütterung angedeihen lässt? Oder geht man davon aus, dass Menschen von Grund auf in einer höheren Dimension immer reich gewesen sind - denn zum Reichtum gehört ja die selbsthelferische Dimension, die Fähigkeit, die eigene Kraft im Lebensvollzug geltend zu machen."

Der Hang zur Selbstunterbietung

Von der Antwort auf diese Frage hängt aber viel ab, denn der Mensch ist oder wird letztlich das, als das er sich - nicht zuletzt aufgrund von (politischen) Zuschreibungen - sehen will. "Wenn der Mensch schlecht von sich selbst denkt, so droht er sich zu unterbieten", und "wenn er sich ständig unterbietet, so wird ihm dieser Zustand irgendwann zur zweiten Natur", hält René Scheu, der Herausgeber der Zeitschrift, fest. Und das habe dann auch Konsequenzen "für das Selbstverständnis des Menschen als Bürger und Steuerzahler".

Damit eng verbunden ist ein Diskurs, der ebenfalls von Sloterdijk in jenem Interview angesprochen wird: der über die Armut. "Bei den aktuellen Klagen wird ein Armutsbegriff konstruiert, der so anspruchsvoll ist, dass er der Überprüfung durch den gesunden Menschenverstand nicht mehr standhält. Denn wenn als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens in einer reichen Nation verdient, dann müssten sich ja eigentlich die wirkliche Armen [...] verhöhnt vorkommen."

Hier wird ein ganz wesentlicher Punkt angesprochen, nämlich jener, dass Armut ein relativer Begriff ist und daher per se auch nie verschwinden kann - es sei denn in einer idealtypisch gedachten vollkommen egalitären Gesellschaft, in der dann freilich alle arm wären (s. o.). Auch in diesem Sinne stimmt das Jesuswort "Denn die Armen habt ihr immer bei euch" (Mt 26,11).

Hier lässt sich auch auf die erste der beiden vorhin gestellten Fragen zurückkommen - jene nach Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Zunächst einmal bedeutet Ungleichheit nicht Ungerechtigkeit, worauf auch der Theologe Johannes Hoff im FURCHE-Interview (S. 4/5) hinweist. Noch immer gilt das aristotelisch-thomasische "Jedem das Seine": "Jedem sollte dazu verholfen werden, seine Möglichkeiten zu verwirklichen", so Hoff. Das gelingt natürlich nicht immer, aber es gelingt öfter als uns wohlmeinende Armuts-und Gerechtigkeitsexperten suggerieren. Und es gelingt wohl auch umso eher, je weniger man Menschen "in der falschen Tonlage" anspricht und ihnen "miserabilistische Selbstbeschreibungen" nahelegt.

"Sozialismus oder Zerfall"

Ja, die Ungleichheit nimmt zu - aber es werden nicht nur "die Reichen immer reicher", sondern auch, wenngleich nicht im selben Ausmaß, die Armen. Die vielzitierte Schere geht also auf, aber auch die untere Schneide zeigt, historisch wie global gesehen, nach oben. Eine Schere indes, die sich schließt oder gar geschlossen ist, wird immer nach unten zeigen.

Aber solche Überlegungen haben zur Zeit schlechte Konjunktur, der Diskurs geht in eine völlig andere Richtung. "Sozialismus oder Zerfall" dekretierte kürzlich in entwaffnender Offenheit Falter-Herausgeber Armin Thurnher. Das ist, mit Verlaub, tendenziell totalitär. Da hilft es auch wenig, dass Falter-Autorin Sibylle Hamann (in ihrer Presse-Kolumne) in drastischen Worten - zu Recht - die Barbarei Lenins und der Oktoberrevolution schildert (freilich nur, um eine FPÖ-Plakatkampagne zu kritisieren). Natürlich schwebt Thurnher &Co. keine Oktoberrevolution vor - aber dass im Zweifel der Gleichheit die Freiheit geopfert werden müsse, ist doch eine genuin linke Überzeugung.

Was wir brauchen: statt Umverteilung Ermächtigung, die "selbsthelferischen Kräfte" zu nutzen. Der Antrieb dazu entsteht indes erst aus jener Ungleichheit, gegen die wir immer aufs Neue ankämpfen.

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