"Kommt her, ihr Böhmen alle!"/"In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort"

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In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort: Diese Verszeile findet sich in einem Gedicht Ingeborg Bachmanns aus dem Zyklus Die gestundete Zeit. Das Gedicht trägt den Titel Psalm. Offen bleibt die Frage, ob damit ein biblisch-religiöser Bezug angezeigt ist. Der von sanfter Trauer und von Sehnsucht erfüllte Text hat aber jedenfalls Entsprechungen in den biblischen Psalmen, denen im Ganzen ja nichts Menschliches fremd ist. In ihnen kommt alles zur Sprache - Freude und Trauer, Friede und Kampf, strömendes Wort und ein an Sprachlosigkeit grenzendes Seufzen oder auch Staunen.

In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort, sagt die Dichterin. Verstummende Dichter sind der Literaturgeschichte ebenso vertraut, wie verstummende Propheten der Religionsgeschichte vertraut sind. ,,Die Sprache ist nicht auf alles eingerichtet", hat Goethe im Alter gesagt. Und Thomas von Aquin ist Monate vor seinem Tod verstummt, schweigend eingetaucht in den Vorschein ewigen Lichtes. Vergil wollte, dass seine Äneis verbrannt werde, und Gogol hat den zweiten Teil seines Werkes "Die toten Seelen" selbst verbrannt.

Ingeborg Bachmann, die bis zu ihrem Tod nicht definitiv stumm geworden, aber immer wieder an die Grenze der Sprache geraten ist, vergleicht ihr Stummsein mit einer Mulde, mit einem offenen Hohlraum. Was oder wer kann aber diesen Hohlraum füllen mit etwas, das man nicht erzwingen, sondern nur ersehnen und empfangen kann?

Die Dichterin spricht vermutlich nicht Göttliches oder gar einen personalen Gott an, sondern sehnt sich nach einer geglückten Beziehung zu einem Menschen. Sie bittet einen solchen Menschen und nicht Gott um ein Wort. Ihr Gedicht steht aber wie alle Dichtung auch religiös Glaubenden offen. Solche Glaubende können auch das Wort dieses Gedichtes aufnehmen und zu einer Rede an Gott machen, die sagt: "In die Mulde meiner Stummheit leg dein Wort."

Auszug aus: Aber Bleibendes stiften die Dichter. Gedanken für den Tag.

Von Egon Kapellari. Verlag Styria Graz 2001. 216 Seiten, geb., öS 248,-/e 18,02

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