Kompromisslose Gleichheit

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Gerechtigkeit ist für Swami Agnivesh, einen der Träger des Alternativen Nobelpreises 2004, ein spiritueller Grundwert. Deshalb kämpft er gegen Diskriminierung jeder Art.

Ziel einer Religion sollte es sein, allen Menschen ein Leben in Würde und Erfüllung zu ermöglichen. Aber leider ist der spirituelle Kern aller Religionen verrottet. Religionen sind zum Hindernis statt zur Hilfe in unserem gemeinsamen Bemühen um Frieden und Fortschritt geworden", erklärte Swami Agnivesh bei der Annahme des Alternativen Nobelpreises 2004 im Dezember in Stockholm. Der Name dieser Auszeichnung im Englischen lautet "Right Livelihood" - "richtige Lebensführung" - und diese gilt es Swami Agnivesh zufolge zu einem universellen Ziel zu erheben.

Ringen um Gerechtigkeit

Der Preis ist die bisher höchste Auszeichnung, die der Mönch für sein Ringen um soziale Gerechtigkeit erhalten hat. Bandhua Mukti Morcha, die von Agnivesh 1981 in der indischen Hauptstadt Neu Delhi gegründete "Bewegung zur Befreiung aus der Schuldknechtschaft" hat bis heute mehr als 170.000 Inder und Inderinnen, darunter mehr als 26.000 Kinder, aus einer der schlimmsten Formen zeitgenössischer Sklaverei befreit. Zugleich gehört Agnivesh zu den Vorkämpfern gegen den Hindunationalismus sowie für vier, wie er sie nennt, "unabdingbare" Prinzipien: Gleichstellung von Frauen und Männern, Nein zum Kastensystem, Nein zum Rassismus, und Überwindung der "vom Menschen geschaffenen" Kluft zwischen Reich und Arm, zwischen Nord und Süd.

"Jede Form der Diskriminierung steht konträr zu Gott, zur Schöpfung und ist völlig unspirituell. Meine Aufgabe ist es, gegen diese Diskriminierungen anzukämpfen. Das ist meine Religion. Ich gehe in keinen Tempel, ich zelebriere keine Rituale. Ich arbeite unter den Ärmsten der Armen", betont Swami Agnivesh im Interview in seinem Büro in Neu Delhi und kommt damit auf ein für ihn zentrales Thema zu sprechen: Religion und Spiritualität.

Seine Vorstellung von Gott hat der Mönch nach eigenen Worten aus den Veden, den ältesten Schriften des Hinduismus, abgeleitet. Inspiriert haben ihn dabei die Texte von Dayananda Saraswati, der 1875 die Hindu-Reformbewegung "Arya Samaj" begründete. Dayananda lehnte jegliche Bilderverehrung ab, er bestand darauf, dass das Studium der Veden allen erlaubt sein müsse, auch den Frauen und Angehörigen der niedrigsten Kasten, denen es traditionell versagt war. Und er verfocht die Gleichheit aller Hindus.

"Für mich war das so befreiend. Ich war begeistert von der Idee, dass die Beziehung zwischen meinem Gott und mir nicht umständliche Rituale erforderte, sondern etwas ganz Einfaches war: Ich sollte Wahrheit, Mitgefühl, Liebe und Gerechtigkeit hoch halten", so Swami Agnivesh, der als Vapa Shyam Rao in eine orthodoxe Brahmanenfamilie im südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh hineingeboren wurde. Großgezogen hat ihn sein Großvater, "ein sehr devoter Brahmane, der zu Göttern und Göttinnen betete, Rituale ausführte, das Kastensystem und die Unberührbarkeit praktizierte. Ich konnte das nie verstehen. Aber Fragen und Zweifel waren nicht erlaubt."

Zweifeln, diskutieren, wenn nötig, widersprechen - diese drei Grundsätze fand Vapa Shyam Rao dann bei Dayananda verankert, dessen Schriften er als Student im Kalkutta der 1950er Jahre kennen lernte. Sie sollten ihn 1968 dazu veranlassen, seine Stelle als Lektor für Jus und Business Management am St. Xavier's College in Kalkutta aufzugeben und zur Arya Samaj zu gehen. 1970 erhielt er seine Mönchsweihe, als Swami Agnivesh trägt er seither safranfarbene Roben und einen gleichfarbigen Turban. Sein Leitbild bleibt Dayananda - so wie er selbst ihn interpretiert und nicht die "rechten, reaktionären Elemente" in der Arya Samaj, von deren Kastendenken, Frauenfeindlichkeit und Obskurantismus Swami Agnivesh häufig enttäuscht, ja schockiert war.

Protestgeist übernehmen

Auch mit Swami Dayananda stimmt der Mönch nicht zu 100 Prozent überein. "Ich denke, dass alle großen Männer und Frauen, die die Geschichte geprägt haben, ihrer jeweiligen Zeit angehörten. Damals waren sie radikal, ob Jesus, Mohammed oder Buddha, aber das heißt nicht, dass alles, was sie taten, dogmatisch befolgt werden muss. Es gilt, den Geist der Veränderung und des Protests von ihnen zu übernehmen."

Im Geiste Dayanandas nehmen Textpassagen und Begriffe, die traditionell einer gerechten Gesellschaftsordnung entgegen zu stehen scheinen, neue Bedeutung an. Karma, betont Swami Agnivesh, ist dann nicht mehr "die bösartige Theorie", wonach jeder sein Leiden in diesem Leben mit den eigenen schlechten Taten in früheren Leben zu verantworten habe. "Ich interpretiere es genau umgekehrt. Die Veden sagen, arbeite mit der rechten Hand und ernte die Früchte mit der linken Hand": Taten tragen also in diesem Leben Früchte, und jeder soll sich für Gerechtigkeit einsetzen. Dharma - Ordnung - ist ein Kernbegriff des Hinduismus, mit dem auch die Gliederung der hinduistischen Gesellschaft in Kasten bezeichnet wir. Für Swami Agnivesh bedeutet er "richtige Lebensführung, Spiritualität; Dharma ist soziale Gerechtigkeit in allen Lebensbereichen."

Menschen sind gleichwertig

Gerechtigkeit gehört für Swami Agnivesh zu den spirituellen Grundwerten. "Diese Werte sind die Attribute des Schöpfers, ob wir ihn nun Gott oder Ishwara oder was immer nennen. Denn Gott oder die Göttin selbst hat keinen Namen. Als Gott sollten vielmehr Gerechtigkeit, Wahrheit, Liebe und Mitgefühl gelten."

Swami Agnivesh zieht eine klare Trennlinie zwischen Religion und Spiritualität. Dogmen, Rituale, blinder Glaube und Chauvinismus kennzeichnen seinen Worten zufolge die institutionalisierten Religionen. "Spiritualität aber ist kompromisslos egalitär. Der gleiche Wert aller Menschen, die alle gleichermaßen Anteil am Göttlichen haben, ist die Basis der Spiritualität. Kein System, keine Ideologie, ob religiös oder säkular, die den Wert des Menschen schmäht, kann Anspruch auf Spiritualität erheben", ob es ein Kastensystem oder der Materialismus ist: So hat er es in seiner Rede über "Religion und soziale Gerechtigkeit" vor dem Weltparlament der Religionen 1999 in Cape Town formuliert. Spiritualität ist damit auch eine Verpflichtung zu sozialem Handeln und dem Kampf für eine gerechte Weltordnung.

Geteilte Spiritualität

Immer wieder hat Swami Agnivesh die Forderung erhoben, "die Menschen von der Religion zu befreien". Keinesfalls aber dürfe an die Stelle der alten Götter der neue Gott des Materialismus und Konsumwahns treten. Was es braucht, ist "ein Paradigmenwechsel von der Religiosität zu einer geteilten Spiritualität". Diese Spiritualität vermisst er in der heutigen Menschenrechtsdebatte. "Menschenrechte - und das inkludiert die Frauenrechte - sind etwas Wunderbares", ein "profunder Schritt nach vorne im Denken", betont der Mönch. Aber sie genügen ihm nicht. Erde, Luft, Wasser - alles hat seiner Weltsicht zufolge Rechte. "Ich möchte von der Integrität der Schöpfung sprechen, der Interdependenz allen Lebens. Das beste wäre es, den Menschenrechtsdiskurs mit universeller Spiritualität zu verbinden, nur dann wird er Tiefe haben. Solange Menschen nicht in ihrem Herzen und in ihrem Geist als Gleiche miteinander umgehen, werden Dokumente wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte nicht viel ändern."

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