Kräftige Kost fürs Leben, nicht für die Theorie

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Die Äußerungen Schnädelbachs sind zu widerlegen, bevor sie sich weiter in die Gemüter von Zeitgenossen bohren.

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Die Äußerungen Schnädelbachs sind zu widerlegen, bevor sie sich weiter in die Gemüter von Zeitgenossen bohren.

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Die Grundthese Schnädelbachs lautet nach eigenem Bekunden: "Nicht bloß die Untaten einzelner Christen, sondern das verfasste Christentum selbst als Ideologie, Tradition und Institution lastet als Fluch auf unserer Zivilisation, der bis zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts reicht". Das Urteil steht fest, die einzelnen Behauptungen, von vornherein in den Dienst der Anklage gestellt, sollen die Beweise liefern. Aber der Text ist aus einer Perspektive geschrieben, die das Christentum offensichtlich von außen betrachtet und darum das, wodurch es tatsächlich bestimmt ist, nicht in den Blick bekommt. Welche Belege werden angeführt? Ich wähle einige von ihnen aus, um ihre Unhaltbarkeit zu zeigen.

Menschenverachtend?

Da ist zunächst die Lehre von der Erbsünde. Sie sei, so heißt es, eine Erfindung des Paulus, der alttestamentliche Vorgaben auf den Kopf gestellt und damit eine menschenverachtende Ideologie in die Welt gesetzt habe. Der "fromme Jude" hingegen wisse nichts von der Erbsünde, er fühle sich nur verantwortlich für das, was er selbst getan habe, aber dafür "existiert auch Vergebung". Es mag en vogue sein, das Judentum gegen das Christentum auszuspielen, aber sie gehören zusammen wie der Baum und seine Wurzel. Ohne Zweifel kennt auch das Alte Testament den Umstand, dass Fromme, ohne persönlich dafür verantwortlich zu sein, vom Bösen bedrängt und straffällig werden: "Siehe, ich bin in Schuld geboren, und meine Mutter hat mich in Sünde empfangen" (Psalm 51,7). "Nach diesem Text", so der Exeget Norbert Lohfink, "tritt die Sünde nicht erst in einem bestimmten Augenblick des Lebens ein, sondern kommt aus der Tiefe der überindividuellen Vergangenheit heraus ins einzelne Leben" (Das Jüdische am Christentum, Freiburg 1987, 182).

Paulus hat demnach nicht etwas völlig Neues erdacht, wohl aber versucht, jüdisches Empfinden im Licht des Christusglaubens zu deuten; damit konnte er die frohe Botschaft als universale Botschaft in ein Dunkel hineinsagen, das nicht minder als etwas Flächendeckendes erfahren wurde. Die christliche Erbsündenlehre interpretiert ein Phänomen, das sich durch die Beobachtung aufdrängt. Sie belegt die Realitätsnähe der Verkündigung und entlastet den Menschen dadurch: Wo seine Möglichkeiten enden, erweist sich Gottes Kraft.

Blutrünstiger Gott?

Dass sich Schnädelbach an der Rolle des Kreuzes stößt, ist nach den Diskussionen über Franz Buggles Buch "Denn sie wissen nicht, was sie glauben" (Reinbek 1992) wenig originell: "Das Christentum kann sich Glaube, Liebe, Hoffnung nicht ohne Blut vorstellen; je blutiger, desto authentischer". Vielleicht beziehen sich die Formulierungen des Neuen Testaments, was die Bedeutung des Todes Jesu angeht, auf Bilder, die uns heute nur schwer zugänglich sind. Aber der Grundbescheid, der von Schrift, spiritueller Tradition und kirchlicher Lehre ausgeht, lautet einstimmig: Das Kreuz ist nicht die Voraussetzung der Liebe Gottes, sondern ihre Konsequenz. Am Karfreitag hat sich gezeigt, wie weit der erbsündlich belastete Mensch tatsächlich zu gehen vermag, aber es zeigte sich auch, wie weit Gott geht: Selbst in der Stunde, da der Sohn weggenagelt wird, setzt er alles auf seine Kreatur und verwandelt ein grauenhaftes Mordinstrument in ein Zeichen des Trostes. Wer auch nur ein wenig Ahnung vom Leben hat, wird zugeben müssen, dass bedingungslose Zuneigung ein gehöriges Maß an Leidensbereitschaft voraussetzt. Sollte es bei Gott anders sein?

Leibfeindlichkeit?

Ganz auf der Linie des momentan Plausiblen liegt der Vorwurf, das Christentum sei platonisiert worden und trage seitdem eine fatale Leibfeindlichkeit in sich. Gewiss waren Theologen der christlichen Antike von Elementen der platonischen Philosophie, wie sie vom akademischen Betrieb ihrer Zeit vermittelt wurden, fasziniert. Aber hat nicht ein Denker unserer Tage vermutet, die ganze Philosophie nach Platon bestehe nur aus Fußnoten zu Platon?

Die Kirchenväter brauchen sich ob ihrer Begeisterung also nicht zu schämen. Indes haben sie trotz philosophischer Interessen durch ihre Schrifttreue verhindert, dass das Christentum zu einer Idee verblasste.

Dagegen stand der Glaube an die Menschwerdung Gottes und, das räumt Schnädelbach sogar ein, die Rede von der Auferstehung des Fleisches. An beiden Überzeugungen hat die Kirche gegen das spöttische Lächeln der Griechen festgehalten, und jede wohl verstandene Askese hat das "Fleisch" nicht einfach abgewertet, sondern für den Glauben in Dienst genommen. Schließlich galt der Erlöser der Welt auch als ihr Schöpfer.

Angesichts der Fehldeutungen christlicher Motivationen von Seiten Schnädelbachs überrascht es nicht, dass er einmal mehr ein Klagelied über das bis zum Überdruss diskutierte Thema der Geburt Jesu aus der Jungfrau anstimmt. Darin liege eine "Verachtung der Weiblichkeit", so, als "seien Empfängnis, Geburt und überhaupt weibliche Sexualität etwas Schmutziges". Es ist unmöglich, auf solche Anwürfe in Kürze einzugehen, aber so viel steht fest: Die diesbezüglichen Aussagen der Bibel heben ihrer Intention nach nicht auf Moral ab. Sie wollen vielmehr andeuten, dass sich die Erlösung der Menschheit einem göttlichen Neuanfang verdankt, in den gerade eine Frau - Maria - mit Leib und Seele einbezogen wurde.

Das Urteil Schnädelbachs über die Wirkung der Offenbarung des Johannes ist schlicht einseitig: Das Buch habe die Menschen des Abendlandes "in Angst und Schrecken" versetzt und manche dazu verführt, "selbst die Apokalypse herbeizuzwingen und zu vollstrecken". Letzteres lässt sich nicht abstreiten; aber Verfehlungen gehen auf das Konto einer menschlichen Selbstherrlichkeit, der durch die Apokalypse der Boden grundsätzlich entzogen bleibt. Das Gericht kommt nach diesem Buch Gott allein zu, und von Jesus her wissen wir, dass es in jedem Fall liebevoll und gerecht sein wird. Aus dieser Zuversicht heraus wollte die Apokalypse nicht drohen, sondern beruhigen und Gelassenheit schenken. "Wäre es nicht christlicher, die Eschatologie unter das biblische Bilderverbot zu stellen?", fragt Schnädelbach. Dieser Vorschlag hat etwas für sich - solange man sich nur theoretisch mit den so genannten letzten Dingen befasst. Wer aber in Not gerät, braucht kräftigere Kost, und die wollte das frühe Christentum seiner Anhängerschaft geben.

Was ist zu tun?

Es wäre noch einiges mehr zu sagen gegen Schnädelbachs Rundumschlag, der auf den ersten Blick eingängig und aufgeklärt scheint. Eine intellektuelle Herausforderung ist er nicht, dafür argumentiert er zu populistisch, zu salopp, zu schwach. Dennoch wäre allen, die Verantwortung für die Verkündigung tragen, zu raten, solche Äußerungen aufzugreifen und zu widerlegen, bevor sie sich weiter in die Gemüter der Zeitgenossen und Zeitgenossinnen bohren und eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Christentum verhindern.

Der Autor ist Professor für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

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