Kreuze runter – Minarette rauf?

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Wenn der Schweizer Minarettstreit zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kommt, steht Bürgerwille gegen Menschenrechtskonvention, Demos gegen Justitia.

Seit Sonntag, 29. November 2009, 19 Uhr tickt ganz Europa anders. Die Schweiz hat abgestimmt. Minarette? Nicht bei uns, sagen so um die 57 Prozent der Abstimmenden. Gratulationen erreichen die Schweizer. Eliten protestieren. Merkt jemand, was sich da insgesamt anbahnt? Ein Zuzug zur direkten Demokratie, zu Auf-begehren und zu Ab-stimmen. Deutsche und Franzosen fragen schon laut, warum dürfen wir nicht abstimmen, worüber die Schweizer Bürger selbst bestimmen dürfen? Holländer sagen, wir fragen nicht lange, wir werden es tun. Der kleine österreichische Hexenmeister in Kreuzritterpose sagt, wir tun es auch. Polen, Tschechen, Spanier mit maurischer Vergangenheit und andere eint: Lasst uns auch ein Volks-Aufbegehren starten. Und, wohlgemerkt, es geht weder um Ortsbildschutz noch um einen Krieg der Religionen (so christlich sind die Europäerinnen und Europäer dann auch wieder nicht mehr), es geht um einen Kulturkampf.

Der Antagonist der Minarett-Stürmer, Andi Gross, aufrechtes Urgestein der direkten Demokratie, hält Blocher in fulminanten Wortschlachten ein grandios richtiges Argument entgegen. Man hätte die Bürger eines einzelnen Staates, diesfalls der Schweiz, dann nicht abstimmen lassen dürfen, wenn sie über Recht abstimmen, das mit dem Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zur Beurteilung in letzter Instanz an den internationalen Gerichtssaal abgetreten worden ist. Wenn die Schweizer die „Panne“ nicht in einem weiteren Referendum selber wieder reparieren, dann werde wohl der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg (EGMR) diese reparieren müssen. Leider wird dieses starke Argument die gegenteilige Wirkung auslösen.

Ohne Rechtsakzeptanz keine Rechtstreue

Gross weckt damit ein schlafendes Europa auf. Ist es denn wirklich schon so, dass unsere Souveränitäten gar nicht mehr existieren? Ja, Leute, Gross hat völlig recht. So ist es. Und daher wird der Menschenrechtsgerichtshof, wenn er angerufen werden wird – und er wird es werden! –, den Richterhut aufsetzen und den Fall entscheiden. Ja darf er denn das? Falsche Frage: Er muss!

Noch ist nur erst einmal der Zündsatz scharf gemacht, in dem der EGMR angerufen werden soll. Aber was wenn dieser Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg, der ja eben erst judiziert hat, dass die christlichen Kreuze (Kruzifixe) in öffentlichen Räumen wegmüssen, zu folgendem denkbaren Ergebnis kommt: Der Bau von religiösen Symbolen im öffentlichen Raum, eben Minaretten, gehört zu den Grundpfeilern des Religionsausübungsrechts und dieses zur EMRK-Garantie der Religionsfreiheit. Verkürzt gesagt: Kreuze runter, Minarette rauf?

Dann steht die EMRK urplötzlich mit dem Rücken zur Wand der Rechtsakzeptanz – und mithin zur Disposition. Rechtsakzeptanz ist zwar für die Gültigkeit von Recht nicht zwingend erforderlich – so weit die Rechtstheorie –, aber wenn sie gründlich abhandenkommt, ist dieses Recht recht schnell nur mehr eine morsche Fassade. Einsturz ist nur eine Frage der Zeit. Deutsche erinnern sich an die im Steilflug nach unten verglühte Weimarer Verfassung.

Schon bei geringeren Anlässen haben EMRK-Staaten die rote Karte gezückt. Haben den Straßburger Gerichtshof wissen lassen, Richter, wenn ihr weiter so Politik macht, dann müssen wir uns sogar den Austritt überlegen. Wenigstens aber eine Änderungskündigung mit anschließendem Wiederbeitritt – dann aber nur mehr mit Vorbehaltserklärungen. Was Großbritannien und Polen bei der EU-Grundrechtecharta recht war, nämlich zu sagen, dies und jenes passt uns einfach nicht und daher anerkennen wir nicht, basta, könnte anderen dann bei der EMRK billig sein. Blocher hat es schon gebellt: Wir kündigen. Andere werden folgen. Darauf darf gewettet werden.

Gerichtshof, geh voran, aber nicht zu weit …

Das könnte dann aber der Anfang von einem langen und gefährlichen Ende werden. Wer möchte jetzt in der Haut der Straßburger „Gens de Justice“ stecken? Zum Handlungsspielraum von Verfassungs- und Höchstrichtern haben sich zwei Gerichtshofspräsidenten, die es wissen müssen, glasklar geäußert, Jutta Limbach (D) und Philipp Adamovich (Ö): Topgerichtshöfe sind zwar an sich entscheidungsautark und das ist gut so. Aber sie können dennoch nicht nachhaltig und dauerhaft die Überzeugungen des Souveräns ignorieren.

Der Souverän ist jedoch das Volk, zugespitzt gesagt die jeweilige Mehrheit des Volkes. Die kann natürlich irren, klar. Aber fürs erste erzeugt sie Recht, das solange gilt, bis eine andere Mehrheit anderes Recht durchsetzt. Nun ist natürlich für Verfassungsrecht, wozu allemal die Menschenrechte zählen, ein weises Sicherheitsventil installiert. Demzufolge können diese nur qualifizierte Mehrheiten abändern. Ein starkes Argument, gewiss. Aber dennoch brüchig – auf längere Sicht. Wer Bürger beharrlich ignoriert, und wär’s ein Gerichtshof, arbeitet just dem Heranwachsen solcher Mehrheiten zu.

Franz Matscher, zwanzig Jahre österreichischer Höchstrichter in Straßburg, warnt seit Langem: Gerichtshof, es gibt Zeiten, da gilt es voranzugehen. Aber irgendwann heißt es dann innehalten und bei den Bürgerinnen und Bürgern Akzeptanz einzuwerben, man muss das Erreichte sich setzen lassen.

Im Moment sind die beunruhigten Schweizer im Fadenkreuz der Kritik. Sie sind ihrer wohl nicht verbietbaren subjektiven Wahrnehmung der Gefahr einer Überfremdung gefolgt. Sie mag ja irrig sein oder überzogen. Bloß, der Bürgerschaft Wahrnehmung ist der alleinige Weg zur Legitimität. Legitimität wiederum ist der Kitt, der eine Gesellschaft mit ihrem Staat zusammenhält. Mit der beleihen wir unsere Nationalstaaten üblicherweise in passablem Ausmaß. Auch weil wir eine wahrnehmende Ahnung, ein Gefühl haben, dass wir diese unsere Staaten am langen Ende irgendwie unter Kontrolle haben. Und sei es durch direktdemokratisches Auf-Begehren.

Mit dieser Legitimität haben wir jedoch nie die EMRK beliehen. Wie auch? Nicht wir Bürger sind dort beigetreten, sondern unsere Staaten. Die staatsphilosophische Fiktion meint, das seien ja wir. Weit gefehlt, zeigt sich jetzt, den Bürgern sind das zwei Paar Schuhe. Die haben über den EMRK-Beitritt nie abgestimmt, also sehen die Übergangenen sie als fremdes Recht, als Recht „von außen“, „von oben“. Blocher spricht das ungeniert aus. Auch ein österreichischer Abgeordneter hatte beim österreichischen EMRK-Beitritt ins Parlamentsplenum gebrüllt: Das ist das Ende der Souveränität. Nochmal, ja, ist es. Partiell. Aber das ist auch gut so. Gulliver und Leviathan haben sich selbst gefesselt. Aus weiser Einsicht. Was ein außer Rand und Band geratener Nationalstaat mit grauenhafter Fratze anrichten kann, wissen wir aus zwölf Jahren der europäischen Düsternis nur zu gut. Ist also schon gut, dass wir uns in den Menschenrechten selbst restlos gesamteuropäisch verstrickt haben.

Nur wäre es dennoch angebracht gewesen, die Bürger in die Europäisierung des Rechts konstant wollensbildend und dann willenstragend einzubauen. Dann hätten die Schweizer gewusst, dass sie über diese Frage, die möglicherweise die EMRK berührt, nicht alleine abstimmen sollten, weil sie vorher noch viele andere Bürgerschaften zu einer gemeinsamen Sache hätten gewinnen müssen. Dass ein gesamteuropäischer Souverän dann am Ende aber immer recht hätte, dem würde sich wohl kein aufrechter Demokrat verschließen dürfen.

Aber eines derartigen Bewusstseins, dass Bürgerabstimmungen nur auf der jeweils richtigen Ebene ihren Platz haben können, also Wiener auf der Wiener Ebene und europäische eben nur auf der europäischen, mangelt es ganz grundsätzlich. Die Politik, je populistischer desto mehr, schürt absichtlich ein Kuddelmuddel. Und der Boulevard spielt die passende Musik dazu.

Gebt den Bürgern ihren Staat zurück!

Paul Kirchhof hat daher schon aufgestöhnt und eine Therapie ersonnen: Gebt den Bürgern ihren Staat zurück (2008). Großartig. Es ist nur zu ergänzen, gebt den Bürgern doch endlich auch ihr Europa zurück. Egal ob das EU-Europa oder das EMRK-Europa, aber gebt es gesamteuropäisch zurück. Es sind auch in Europa immer am Ende die Bürgerin und der Bürger, die ihr Recht tragen – und dann auch bei rauem Wetter selber in europäischer Rechtstreue durchtragen müssen. Richter können die nur ganz ersatzhalber herstellen und auch das nur für ganz kurze Zeit tun. Und keinesfalls gegen ein sich aufbauendes breites Klima der Kulturverunsicherung. Halt, halt, ist denn Verunsicherung nicht bloß ein emotionales Gefühl? Schon. Aber Gefühle müssen erstens nicht zwingend falsch sein und zweitens siegen Emotionen sowieso allemal.

Merke daher, was auch immer bei Verstand auch Bestand haben soll, dafür müssen zuerst einmal die Herzen der Bürger gewonnen werden. Klingt pathetisch, ist aber genau das, was die Politik bislang nicht bieten konnte oder wollte. Daher wenden sich eben Bürger an Bürger – direktdemokratisch. Wohlan.

* Der Autor ist Prof. für Europäische Rechtsentwicklung an der Uni Graz und u.a. Präsident von „Europa braucht Initiative“ (www.we-change-europe.eu

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