Krimis bringen Martin Luther ins Heute

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Trotz Schwierigkeiten dürfte die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" von der katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund unterzeichnet werden. Was besagt diese Lehre heute?

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Trotz Schwierigkeiten dürfte die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" von der katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund unterzeichnet werden. Was besagt diese Lehre heute?

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Mitten in einer wohlgeordneten Gesellschaft passiert ein Verbrechen. Ein kluger Detektiv oder eine Miß Marple, klärt alles auf, überführt den Verbrecher der gerechten Strafe, die Welt ist wieder in Ordnung. Nach diesem Muster verfährt der klassische Kriminalroman.

Auf der Schattenseite Aber der Kriminalroman hat sich auf die Schattenseite der Welt eingelassen, und kommt nicht so leicht aus ihr heraus. Er entdeckt, daß die Dinge nicht so einfach sind. So entsteht so etwas wie ein "anderer" Krimi: da kann sich eine verständnisvolle, ja liebevolle Beziehung zwischen Detektiv und Verbrecher entwickeln, wie etwa bei Georges Simenon, dem Schöpfer des weltberühmten Kommissars Maigret. Da kann das Verbrechen nur der sichtbare Teil einer im Grunde durch und durch korrupten Gesellschaft sein, wie beim amerikanischen Meister des schwarzen Krimis Raymond Chandler, oder sich abspielen vor dem Hintergrund einer sich faschisierenden Gesellschaft, wie beim schwedischen Autorenehepaar M. Sjöwall/P. Wahlöö.

Bei der Grande Dame des bösen Krimis, Patricia Highsmith, gehört das Böse zur Normalität menschlichen Lebens in all seiner Banalität. Beim Schweizer Friedrich Dürrenmatt gar wird Schuld von "anständigen" Menschen sichtbar. Der Mensch steht vor seinem Richter.

Was diesen "anderen" Krimi bewegt: der Mensch überhaupt, oder auch die Gesellschaft, wird in die Verantwortung gerufen, jedenfalls nicht nur ein aus der Reihe fallender Täter. Das Böse wird in einer Radikalität gesehen, die es unmöglich macht, es einfach aus der Welt herauszubringen. Und: die Grenze zwischen den Guten und den Bösen verschwimmt.

Gerade hier kommt es zur Berührung zwischen Kriminalroman und der Rechtfertigungslehre, wie sie von Paulus entwickelt und in anderem Zusammenhang von Luther neuformuliert wurde. Für Luther ist sie der "Artikel, mit dem die Kirche steht oder fällt".

Der moderne Kriminalroman, die moderne Literatur insgesamt gibt Hinweise, wie diese Lehre heute adäquat verstanden werden kann.

Der Mensch ist in Verantwortung genommen Der Kriminalroman demonstriert an einem besonderen Fall, daß ein Mensch in Verantwortung genommen ist, exemplarisch für den Menschen überhaupt. Dieses Motiv zieht sich auch, deutlicher oft, durch die moderne Literatur. Bei Franz Kafka wird Josef K. eines Morgens abgeholt und vor ein Gericht gestellt. Niemand weiß, weswegen, niemand, wer das Gericht eigentlich ist. Fest steht, daß er sich zu verantworten hat. Bei Max Frisch, bei J. B. Priestley kommen unbescholtene Menschen in die Situation, sich verteidigen zu müssen. Jeder kommt vor seinen Richter, auch wenn er ihm nicht den Namen "Gott" gibt.

Der Mensch hat sich zu verantworten, sein Leben, was er denkt und tut. Und er hat Verantwortung zu übernehmen: für sich natürlich, aber auch für die Gesellschaft, für die Zukunft, für die Lebensqualität seiner Kinder und Enkelkinder. Der Philosoph Hans Jonas schreibt darum vom "Prinzip Verantwortung". Der seiner Individualität bewußte Mensch der Moderne kann sich nicht mehr ausreden auf andere, auf eine anonyme Masse, auf den Zufall. Es gelingt ihm auch nicht mehr, sich selbst zu rechtfertigen, auch wenn er es weiterhin versucht. Das ist die Erfahrung unseres Jahrhunderts.

Die Rechtfertigungslehre sagt eben dies: daß der Mensch vor Gott steht, angeklagt, für schuldig befunden, und, das ist jetzt das ganz andere: um Christi willen frei gesprochen. Er erfährt Rechtfertigung, er erfährt Gottes Urteilsspruch wie im Prozeß des alten Israel: "Gerecht bist du!" Nicht durch sich selbst, nicht durch eigene Leistung, nicht durch Selbstrechtfertigung, sondern als Geschenk.

Luther wird das wichtig, weil die ihm gewohnten Bußpraktiken sein Schuldbewußtsein nicht beruhigen kann. Heute ist das wichtig, weil die Schuldverflochtenheit des einzelnen in gesellschaftliche Schuldzusammenhänge, der ungerechten Weltwirtschaftsstrukturen etwa, oder der Zerstörung der Erde, nicht durch Unzuständigkeitserklärung aufgelöst werden kann.

Zugleich sündig und gerecht Das ist die Formel Luthers. Vorhin habe ich geschrieben: die Grenze zwischen den Guten und den Bösen verschwimmt, wohlgemerkt: nicht die Grenze zwischen gut und böse. Viele Kriminalromane zeigen das. Auch für Luther und seine Schüler ist die Rechtfertigung ganz, der Mensch ist durch sie neu, befähigt und berufen, Gutes zu tun. Er ist nicht ein bißchen, nicht halb gerechtfertigt. Aber er ist der Herrschaft der Sünde noch nicht entnommen. Seine Sünde, die er nun als Gerechtfertigter tut, ist auch nicht leichter oder vergebbarer als vorher. Solange wir in unserer Geschichte leben, gibt es den Kampf zwischen Gott und dem Bösen, dem der Mensch nicht entnommen ist. Der Kampf spielt sich auch in ihm und mit ihm ab.

So lauten die traditionellen Sätze. Wir müssen sie abers anders formulieren, weil wir unter anderem durch die Rechtfertigungslehre erkannt haben, wie gefährlich die Idee der Reinheit, die Idee der möglichen Sündlosigkeit ist. Gerade in einer Welt, in der die ethischen Probleme so komplex geworden sind, zeigt sich, daß die Problemreduktion auf einen puren Idealismus gefährlich, Sünde ist, vielleicht sogar die Sünde schlechthin (wie für Paulus die Sünde schlechthin der Selbstruhm des Gerechten ist).

Dadurch nämlich, daß der Rechtfertigungsglaube Gott als den sieht, der den Gottlosen gerechtmacht, werden die Menschen nicht in Gute und Böse getrennt. Sondern da gibt es Menschen, die im Vertrauen auf die Menschenliebe Gottes so gut als möglich ihren Weg zu gehen versuchen, wissend, daß sie den richtigen Weg nicht sehen oder nicht gehen können, weil sie zu schwach sind, weil die sündigen Strukturen stärker sind, oder weil das Richtige unter einem Aspekt das Falsche unter einem anderen ist. Damit wird keineswegs einem ethischen Relativismus das Wort geredet. Aber es wird Front gemacht gegen die Vereinfachung, gegen das Richten über andere, gegen die Vorstellung von ethischer Reinheit, die alle über die Klinge springen läßt, die in ein Schema nicht hineinpassen.

Kontroverse katholisch-evangelisch Die Rechtfertigungslehre war eigentlich nicht das Streitthema der Reformation, sondern die Bußlehre und -praxis, aber sie wurde für die Evangelischen zum zentralen Punkt der Theologie, geriet dadurch ins Kreuzfeuer der Kontroverse wie in den Mittelpunkt vergeblicher Verständigungsbemühungen. Die Katholiken befürchten, daß die reformatorische Auffassung von der Rechtfertigung allein ohne Werke die tatsächliche Erneuerung des gerechtfertigten Menschen und seine Berufung und Befähigung zum Tun des Guten vernachlässigt. Sie sehen die Rechtfertigung als das ganze Leben umgreifenden Prozeß, der Rechtfertigung und Heiligung, Glauben und gute Werke einschließt. Die Evangelischen sehen gerade darin das Bemühen, nun doch die guten Werke zur Bedingung der Rechtfertigung zu machen.

Ökumenische Bemühungen Die neuere ökumenische Bemühung um gegenseitiges Verständnis haben nun gezeigt, daß die gegenseitigen Befürchtungen nicht so begründet sind, wie es schien. Die erreichte Annäherung im beiderseitigen Verständnis und die Benennung der bleibenden Differenzen sollte in der "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigung" zwischen Lutheranern und Katholiken kirchenamtlich festgeschrieben werden. Als wichtigste Differenz zeigt sich, daß beide in einem unterschiedlichen Denkschema argumentieren. Die Katholiken denken von der Taufe aus, denken von einem von Anfang an durch die Gnade begleiteten und getragenen Leben, in dem die Rechtfertigungserfahrung ein Moment neben anderen ist. Sie können daher in der Rechtfertigungslehre nicht die zentrale Lehre des Evangeliums sehen. Die Evangelischen denken von dem jeweiligen Rechtfertigungsakt aus, in dem dem Sünder die Gerechtigkeit zugesagt wird. Daher spitzt sich für sie die Botschaft des Evangeliums eben in der Rechtfertigung zu.

Aber die Kontroverse wird nicht nur deutlich in den wohlgeschliffenen theologischen Formeln, sondern in der religiösen Kultur. Von der evangelischen Rechtfertigungslehre weiß man etwas von der tiefen Brüchigkeit menschlicher Existenz und weiß sie dennoch in Gottes Liebe getragen. Daher traut die evangelische Kirche auch Geschiedene und akzeptiert auch sonst, daß Menschen in ausweglose Situationen geraten können. Die katholische Kirche hält da immer noch nach außen die hehren Prinzipien hoch, ist aber bereit, sich diskret damit abzufinden, daß es nicht immer nach den Prinzipien läuft. So empfindet es jedenfalls der Protestant.

Es wird darauf ankommen, ob und wie die theologische Annäherung in der Rechtfertigungslehre auch zu einer Diskussion der unterschiedlichen religiösen Kulturen führt. Die Erfahrung der conditio humana, wie sie in manchen Kriminalromanen artikuliert wird, kann hier wichtige Brückenfunktionen für das Verständnis bieten.

Der Autor ist evangelischer Oberkirchenrat und lehrt in Wien Systematische Theologie.

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