Krise einer moralischen Instanz

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Die Kirche sei „auf dem besten Weg, nicht nur als Kulturmacht zu implodieren, sondern auch als Institution“, befürchtet Daniel Deckers in der „FAZ“.

Gut fünf Jahre sind seit dem Tod Papst Johannes Pauls II. vergangen. Damals, im April 2005, erwiesen dem Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche so viele Staatspräsidenten und Religionsführer wie noch nie die letzte Ehre, Heroen des Geistes erkannten in dem Papst aus Polen das „Gewissen der Welt“, das einfache Volk deklamierte „Santo subito“ – Heiligsprechung jetzt.

Mittlerweile ist die Erinnerung an den Frühling 2005 verblasst. […] An die Stelle des öffentlichen Respekts, wenn nicht gar der Hochachtung für die Kirche […] ist vielerorts abgrundtiefes Misstrauen, wenn nicht blanker Hass getreten, weil sich mit ihrem Wissen und in ihrem Schutz Geistliche jeden Ranges über Jahrzehnte unbehelligt an Kindern und Jugendlichen vergreifen konnten. […]

Das Schuldbekenntnis, das zu Beginn jedes Gottesdienstes gebetet wird, kennt sittliche Verfehlungen nicht nur in Gestalt bösen Tuns, sondern auch als Unterlassung des Guten. Auf diese Art der Sünde beziehen sich denn auch die meisten Vorwürfe, denen sich die katholische Kirche […] ausgesetzt sieht: So schwer die persönlichen Verfehlungen Einzelner auch wiegen, so sehr konnten die Täter nicht nur im Einzelfall, sondern im Grundsatz auf mehr Mitgefühl rechnen als ihre Opfer – wenn diese überhaupt in den Blick gerieten.

Institutionelle Abwehrreflexe

Diese habituelle Verweigerung gegenüber dem Leid der Opfer ist jedoch nur die eine Seite eines Phänomens […]. Es ist vielmehr nach den strukturellen Bedingungen zu fragen, die ein Klima in der Kirche begünstigen, in dem die institutionellen Abwehrreflexe nach wie vor weitaus stärker sind als die Bestrebungen, sich jenen moralischen Ansprüchen zu unterwerfen, welche die Kirche gegenüber ihren Mitgliedern wie auch gegenüber der Gesellschaft erhebt.

Dieses Paradox wird durch niemanden so sehr personifiziert wie durch Papst Johannes Paul II.: nach außen ein charismatischer Anwalt von Menschenrechten, nach innen mit Hilfe des damaligen Kardinals Ratzinger ein Verfechter theologischer Tabuzonen und ein Exponent höfisch-zentralistischer Tendenzen, in deren Gefolge das Lebensgefühl vieler Katholiken und das Selbstverständnis der Kirche in einen kaum noch zu überbrückenden Gegensatz geraten.

Intellektuelle Auszehrung

Als Papst haben Ratzinger nicht nur die kognitiven Dissonanzen mit voller Wucht eingeholt, die während des vorangegangenen Pontifikats erzeugt worden sind. Mit einer Kurie, die angesichts der Globalisierung der Kirche strukturell rückständiger ist denn je, und einem Bischofskollegium, das gerade in den Kardinalsrängen intellektuell ausgezehrt ist wie seit Jahrzehnten nicht, hat Benedikt ein Erbe angetreten, das die Probleme, vor denen die Kirche steht, eher befördert denn gemildert hat.

Daher ist auch nicht erkennbar, ob und, wenn ja, woher der Institution Kirche in ihrer gegenwärtigen Lage neue Kräfte zuwachsen können. Im Gegenteil: In den meisten westeuropäischen Ländern ist die Kirche auf dem besten Weg, nicht nur als Kulturmacht zu implodieren, sondern auch als Institution. Der Mangel an Priestern hat Ausmaße angenommen, die das Selbstverständnis der katholischen Kirche alltagspraktisch dementieren, mittels ihrer Sakramente Zeichen des Heils in dieser Welt zu setzen. Eine Kirche ohne Klerus, in der nicht nur jedes Sakrament, sondern mit dem Kirchenrecht von 1983 jede Jurisdiktion an das Weiheamt gebunden ist, führt sich selbst ad absurdum.

* Aus: Frankfurter Allgemeine, 17. Juli 2010

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