Kritik an der Christenheit

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Soeren Kierkegaard ist der bislang letzte deklariert christliche Denker von säkularer Bedeutung. Auch wenn sich sein Todestag am 11. November bereits zum 150. Mal jährt, scheint Soeren Kierkegaard aktuell wie je: Existenzialisten berufen sich - ob zu Recht oder nicht - ebenso auf ihn wie postmoderner Individualismus und Pluralismus. Annemarie Pieper, Heinrich Schmidinger, Gerold Lehner, Kierkegaard-Biograf Joakim Garff über den dänischen Denker. Redaktion: Otto Friedrich

Der dänische Philosoph, Theologe und Schriftsteller Soeren Kierkegaard ist der bislang letzte deklariert christliche Denker von säkularer Bedeutung. "Säkulare Bedeutung" will sagen: Die geistige Wirkung, die von ihm ausging und nach wie vor ausgeht, ist so weit reichend, vielfältig und nachhaltig, dass es so gut wie keinen philosophisch-theologischen Diskurs gibt, der an seinen Thesen und Ansprüchen vorbeikäme - und sei es nur, um sich von ihnen zu distanzieren. Derselbe ausdrücklich christliche Denker Kierkegaard war zugleich einer der härtesten Kritiker des Christentums.

Genauer: nicht des Christentums, wie es sich in der Botschaft Jesu äußert, sondern des real existierenden Christentums, der "Christenheit" wie er es nannte. Anders als seine Zeitgenossen Feuerbach, Marx, Schopenhauer und Nietzsche griff er somit weder die Religion als solche noch das Christentum an sich, sondern die Christenheit im Namen des Christentums an. Der Kampf war deshalb nicht weniger kategorisch, nicht weniger dramatisch, nicht weniger tragisch.

Nicht umgesetzter Glaube

Worin liegt der Stein des Anstoßes in diesem Fall? Überraschenderweise geht es nicht um inhaltliche, sprich dogmatische Differenzen. Kierkegaard disputiert nicht über das Wesen Gottes, über die Zweinaturenlehre Christi, über Ekklesiologie oder über Eschatologie. Ihn interessiert auch kein konfessioneller Disput, etwa ob Luther in der Gerechtigkeitsfrage mehr Recht habe als das Konzil von Trient.

Nein, was Kierkegaard der gesamten Christenheit - jenseits aller konfessionellen Unterschiede - vorwirft, ist: dass sie das Christentum nicht ernst nimmt. Nicht ernst nehmen heißt für ihn: Aus dem, was bekannt wird, resultiert keine Wirklichkeit. Genauer: Dasjenige, was im so genannten Glauben in Anspruch genommen wird, findet keine existenzielle Umsetzung im Leben der einzelnen Christen.

Es gibt nur wenige Denker, die sich so unbedingt danach gefragt haben, was existenzieller Ernst bedeutet, wie Kierkegaard. Nicht nur seine Kritik an der zeitgenössischen evangelisch-lutherischen Nationalkirche Dänemarks lässt sich am Begriff des "Ernstes" festmachen, sondern ebenso die gesamte philosophische Auseinandersetzung, die er vor allem mit Schelling und Hegel führte. Geradezu monoton hält er diesen entgegen, dass es ihnen in ihren Systemen mit der Wirklichkeit nicht ernst sei.

Denn Wirklichkeit ist nicht die Weltgeschichte, ist nicht ein absolutes göttliches Bewusstsein, ist nicht eine bürgerliche Gesellschaft oder ein Staat, sondern immer nur der einzelne Mensch, der sich in Angst, Schuld und Verzweiflung dazu entscheiden muss, seine unendliche und absolut einmalige Bedeutung in den konkreten Bedingungen seiner Existenz zu realisieren. Wahrheit ist daher auch nicht das Objektive, Intersubjektive oder Wissenschaftliche. Wahrheit liegt vielmehr in der Subjektivität des Einzelnen, der sich leidenschaftlich dafür interessiert, etwas Erkanntes in ein Verhältnis zu sich selbst existenziell zu setzen und damit ernst werden zu lassen. Wahr ist mit anderen Worten nicht das bloß Interessante, wahr ist das, was für die Existenz des Einzelnen von Interesse ist.

Kierkegaard war ein genauer Kenner der menschlichen Psyche. Er wusste, dass es mit dem existenziellen Ernst eine schwere Sache ist. Viele Menschen setzen alles daran, um es in ihrem Leben nicht ernst werden zu lassen - bewusst oder unbewusst. Verzweifelt versuchen sie, wie es im Buch "Die Krankheit zum Tode" von 1849 heißt, nicht sie selbst zu sein oder - christlich betrachtet - verzweifelt sie selbst zu sein. Sie tun dies grundsätzlich dadurch, dass sie existenziellen Entscheidungen aus dem Weg gehen.

Vor sich selbst davonlaufen

Sie laufen vor sich selbst davon, flüchten in Geschäftigkeit, Umtriebigkeit, Alltäglichkeit, überlassen sich Wünschen, Begierden, Stimmungen, treten zu ihrem eigenen Leben in ein äußerliches - "ästhetisches" - Verhältnis, schauen sich selbst zu, als säßen sie im Theater, ergehen sich in gemeinschaftlicher Ritualität, delegieren sich selbst an anonyme Größen wie "die" Gesellschaft, "den" Staat, "die" Öffentlichkeit, "die" Wissenschaft, "die" Kirche, begnügen sich mit rein Quantitativen, sind lieber Nummer als Träger von Verantwortung, versteigen sich in bloße Phantasie, bauen sich - wie Kierkegaard sagt - Paläste und wohnen daneben in den Scheunen.

Anders als sein Zeitgenosse Friedrich Nietzsche erklärt Kierkegaard diese Lebens- und Entscheidungsschwäche des Menschen weder physiologisch noch rein psychologisch. Er betrachtet das Phänomen vom Standpunkt des Ethikers und sieht letztlich im faktischen Nichtentscheiden lediglich die Kehrseite einer Entscheidung - die Entscheidung sich nicht zu entscheiden. Grund dafür ist ihm der Umstand, dass prinzipiell jeder Mensch nicht nur der Angst der Freiheit vor ihrem eigenen Vollzug, der Erkenntnis der eigenen Schuld sowie der Verzweiflung als Kategorien menschlicher Existenz ausgesetzt ist. Grund dafür ist ihm ebenso der Tod. Dieser erscheint, wie es in der wohl eindrucksvollsten Erbaulichen Rede "An einem Grabe" von 1845 zu lesen ist, als der fundamentale Anlass dafür, dass es in jedem Leben ernst und bedeutungsvoll wird, zugleich aber auch als der ultimativ positive Anstoß dafür, dass menschliche Freiheit in Gestalt von existenzieller Entscheidung überhaupt stattfindet. Ohne Tod keine Freiheit.

Ohne Tod keine Freiheit

Am ernstesten wird es für Kierkegaard dann, wenn der Mensch "vor Gott steht". Dazu wiederum gelangt er nicht durch einen speziellen "Sprung", sondern eben dadurch, dass er sich selbst in konkreten Entscheidungen vollzieht und dabei anerkennt, dass diese seine Existenz in ihrer einmaligen und unendlichen Bedeutung nicht nur nicht in sich selbst gründen, sondern auch angesichts ihrer Bedingungen - Angst, Schuld, Verzweiflung - aus eigener Kraft nicht gelingen kann. Diese Anerkennung, die ebenfalls nicht selbstverständlich ist, gibt es doch die Versuchung, verzweifelt man selbst sein zu wollen, stellt vor Gott und führt zum Glauben.

Der Christenheit hält Kierkegaard nun vor, dass es ihr im geschilderten Sinne nie ernst wird. Sie behauptet wohl, das einzig mögliche Verhältnis des Menschen zu Gott zu kennen und zu praktizieren. Kierkegaard hält dies jedoch für eine Lüge. Für ihn tut sie vielmehr alles, um die existenzielle Entscheidung des Einzelnen für Gott und die Botschaft Jesu zu verhindern. Wichtiger als die Sorge darum ist ihr die Sorge um ihre gesellschaftliche Position. Am liebsten würde sie mit der Gesellschaft identisch sein und den Anspruch erheben können, jeweilige Staatskirche zu sein. Sie denkt daher in den Kategorien der Quantität: Je mehr Mitglieder, umso wirklicher; je höher die mediale Präsenz, umso mehr Realität; je mehr Einfluss, umso sicherer die wirtschaftliche Basis ihrer Einrichtungen und Funktionäre; je eindrucksvoller das gemeinschaftliche Ritual, umso bewiesener die eigene Überzeugung. Sie bemerkt gar nicht, dass sie damit nichts anderes als eine äußerliche Fassade errichtet beziehungsweise ein Schauspiel inszeniert, dem die beanspruchte religiöse Wirklichkeit nicht entspricht. Wirklichkeit tritt ja nur ein, wo der Einzelne in seinem Inneren eine Entscheidung trifft.

Was aber noch schlimmer ist: Die Christenheit vergeht sich an der ursprünglichen Intention des Christentums, Salz der Erde zu sein, was naturgemäß Einspruch gegen das gesellschaftlich Übliche und kulturell Akzeptierte bedeutet - und sei es um den Preis, dafür leiden zu müssen, ja verfolgt und getötet zu werden. Dadurch hört sie auf, Wahrheitszeugin zu sein. Womit nicht nur der Verlust des einzelnen Menschen, sondern Hand in Hand damit die Abschaffung des Christentums unausweichlich wird.

Das Dialogische verkannt

Man mag Kierkegaard entgegenhalten, dass er durch seine Fixierung auf den Einzelnen die Bedeutung des Anderen - damit auch des Dialogischen und Intersubjektiven - für die menschliche Existenz verkannt hat, dass er aus diesem Grund die kaum zu leugnende Wirklichkeit des Kulturellen, Gesellschaftlichen und Politischen unterschätzen musste, dass seine Bibelauslegung ihre Einseitigkeiten aufweist, sein Gottesbild wohl allzu dunkel gefärbt ist und die Geschichte der Christenheit bei ihm sicherlich keine differenzierte Betrachtung findet. Deshalb wird man sich aber seiner Frage, wie es mit dem Ernst der eigenen Ansprüche steht, und seinen Hinweisen darauf, was es mit dem Ernstwerden einer Sache wie dem Glauben alles auf sich hat, nicht entziehen können.

Der Autor, Professor für Christliche Philosophie, ist Rektor der Universität Salzburg.

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