Laien aller Länder vereinigt euch!

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Noch bevor Karl Marx sein Manifest schrieb, kämpfte Frederic Ozanam gegen Armut und Elend. Sehr wohl mit geistigem Überbau. 1833 gründete er die "Vinzenzgemeinschaft", wo sozial handeln und glauben sich in einzigartiger Weise vereinigen.

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Noch bevor Karl Marx sein Manifest schrieb, kämpfte Frederic Ozanam gegen Armut und Elend. Sehr wohl mit geistigem Überbau. 1833 gründete er die "Vinzenzgemeinschaft", wo sozial handeln und glauben sich in einzigartiger Weise vereinigen.

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Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!" Diese berühmten Schlagworte brachten Europas damalige Weltordnung gehörig durcheinander. Frederic Ozanam war Sohn eines Arztes, Theologiestudent und Doppeldoktor, er brachte es sogar zum jüngsten Universitätsprofessor auf der Sorbonne. Trotzdem schlug er sich auf die Seite der Armen. "Passons aux barbares!" (Laufen wir über zu den Barbaren!) mit diesem Schlachtruf lief er inmitten der blutigen Arbeiteraufstände des Jahres 1848 auf die Seite der Armen und Schwachen über. "Keine Gesellschaft kann Elend als Schicksal akzeptieren, ohne daß sie in ihrer Ehre getroffen wird. Baut daher Gesellschaften auf, in denen es mehr Brüderlichkeit gibt und die Geringsten und die Ärmsten in ihrer Menschenwürde anerkannt werden," dachte Ozanam gesellschaftspolitisch, noch lange bevor Karl Marx sein Manifest geschrieben hatte.

Bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts forderte er vom Staat Garantien für Arbeit, Anteil der Arbeiter an den Produktionsmitteln, Bildungseinrichtungen und eine solide Sozialgesetzgebung, die Ruhe, Familienlohn und Altersversorgung sichern sollte. Ozanam dachte nicht nur visionär, er handelte auch so und gab sich nicht mit theoretischen Forderungen zufrieden: "Man muß die Treppen der Armenhäuser hinaufsteigen, man muß an den Betten der Armen sitzen, man muß mit ihnen frieren," verbrachte er sein Leben mit den Armen. Ozanam war ein mutiger Mensch, der für seine Idee brannte. Mit nur 40 Jahren starb er, am 22. August 1997 , beim Weltjugendtreffen in Paris, wurde er vom Papst seliggesprochen.

"Das war grandios," erinnert sich der Geistliche Beirat der Vinzenzgemeinschaften in Graz, Pfarrer Wolfgang Pucher. "Notre Dame war berstend voll mit Menschen aus aller Welt, über die Seine hinaus sind sie gestanden, mit Lautsprechern wurde die Predigt des Papstes übertragen", schildert er die Begeisterung, die der charismatische Selige noch heute auslöst. "Ich kam mir vor, als wäre ich Zeuge der Auferstehung." Besonders gefreut hat Pfarrer Pucher, daß sogar im französischen Pendant zur "Volksstimme", der "L'Humanite" ein großer Artikel über die Seligsprechung zu finden war.

Weltweit: 1 Million Ozanams Idee der bedingungslosen Nächstenliebe, die soziale Grenzen sprengt, lebt bis heute. Am 23. April 1833 eröffnete er die erste "Konferenz der Barmherzigkeit", damit war die "Vinzengemeinschaft" geboren. Im Gegensatz zu Marx und gegen die starke Strömung des Atheismus in seiner Zeit, wählte er einen Heiligen als Patron seiner Laiengruppierung: Vinzenz von Paul. 1581 in Südfrankreich geboren, war auch seine Lebenszeit von Hungersnot, Kriegen, Arbeitslosigkeit und Armut geprägt. Als Priester lebte er dem Grundsatz: "Armendienst ist Gottesdienst" und konnte viele Helfer um sich sammeln. Diese Form der Spiritualität hält die Laien in der "Vinzenzgemeinschaft" zusammen. Heute ist sie zur weltgrößten Hilfsgemeinschaft angewachsen, die nur aus unbezahlten freien Mitarbeitern besteht. In Österreich gibt es 150 Gruppen mit etwa 1.500 freiwilligen Mitarbeitern, weltweit gibt es an 46.000 Orten "Netzwerke der Liebe," die Frederic Ozanams Grundsätze befolgen. Über eine Million Menschen setzen sich rund um den Globus unbezahlt für Arme und Schwache ein. Allein in Indien zählt man an die 4.800 Gruppen.

Die am untersten Rand "Zu uns ist die Idee als erstes aus Bayern gekommen", erklärt Oskar Wötzer, Präsident der Tiroler Verbände. Ende Mai konnte er heuer das 150 jährige Gründungsfest der ältesten österreichischen Gemeinschaft St. Jakob in Innsbruck feiern. Dort baute man Wohnungen für arme Arbeiterfamilien. In der NS-Zeit wurden sie enteignet. "Wir bemühen uns sehr, eine hilfsbedürftige Person hineinzukriegen, wenn eine frei wird", sind seit der Übernahme nach dem Krieg noch immer nicht alle Häuser von sozial Schwachen besetzt. Die Anziehungskraft der Vinzenzgemeinschaften ist dennoch ungebrochen: die Gründung der 45. Tiroler Gruppe steht knapp bevor.

Ein Wachstum, das dem Innsbrucker Altbischof Reinhold Stecher eine bewundernde Äußerung entlockte: "In der Kirche geht's abwärts, in den Vinzenzgemeinschaften aufwärts." Die Zusammenarbeit zwischen Laien und Pfarrern funktioniert in Tirol vorbildlich. "Wenn der Pfarrer überlastet ist, ist er froh, daß es Laien gibt, die Verantwortung übernehmen", erklärt Wötzer. Einmal im Monat gibt es "Konferenzen", bei denen die Mitglieder ihre Pläne absprechen und Einsätze koordinieren. "Was wollen wir tun? Wo ist Not? Wie sieht sie aus?" So lauten die wesentlichsten Fragen. Von der beratenden zur vermittelnden Hilfe bis hin zu den Hausbesuchen reicht das Spektrum dessen, was die Laien leisten. Immer noch geht man zu den Armen. "Die Besuchsdienste sind das Kernstück der Gemeinschaften", erklärt Wötzer. Auch jenen, die durch die Maschen des sozialen Netzes fallen, hilft die Gemeinschaft. Notwendige Geldmittel dafür kommen ausschließlich aus Spenden der Mitglieder, die bei jeder "Konferenz" etwas geben, um in dringenden Fällen auch finanziell helfen zu können. Außerdem stellen Juristen, Akademiker und Arbeiter ihr Wissen zur Verfügung, um Auskunftshilfe zu erteilen. "Unser größer Wunsch ist, daß wir die verschämt Armen finden. Denn die, die zu uns kommen, wissen sich ohnehin zu helfen", sucht Wötzer das Elend dort, wo man es niemand mehr wahrnimmt.

Einen radikalen Weg dieser Suche beschritt Pfarrer Pucher in Graz, der um Mitternacht unter Zügen nach Obdachlosen suchte, die dort schlafen könnten. Selbst ins Kanalnetz stieg er, um Bedürftige zu finden. "Wir müssen uns um den kümmern, der am untersten Rand liegt," sagt der Priester, der auch liturgisch die Grenzen sprengt. "Man muß den Leuten aufs Maul schauen und in ihrer Sprache sprechen," sind seine Predigten sozialkritisch, verständlich, radikal und aufrüttelnd. In Graz feierte er einmal eine Liturgie unter einem Zelt, mit Heurigentischen, einer Blechtonne als Altar und einem Pappbecher als Kelch. Über 500 Menschen feierten mit, "manchen sind die Tränen gekommen", freut sich Pucher über die positive Aufnahme seiner "Messe am Asphalt." Außerdem gibt es seit über fünf Jahren das Containerdorf VinziDorf und das VinziNest, in denen 120 Obdachlose eine Bleibe finden. Der VinziBus versorgt täglich über 200 Menschen mit Essen, belegten Broten und Tee. "Armendienst ist Gottesdienst" wird selten so konsequent gelebt, Obdachlosigkeit gibt es in Graz keine mehr.

Der französische Journalist Pierre Pierrard bemerkte 1997 im "Temoinage Chretien", daß Ozanam einer der wenigen Seligen ist, der zu Lebzeiten ein aufopfernder Familienvater und liebevoller Gatte war. "Schlagen wir uns auf die Seite der Barbaren, anstatt den Interessen der egoistischen Bourgeoisien zu entsprechen, wir werden uns um jene kümmern, die mehr Bedürfnisse haben, als sie Rechte besitzen," forderte einer, der auf die Butterseite des Lebens gefallen war. "Wenn sich die neuen Schüler religiös deklarieren, quälen wir sie solange, bis sie ihre Aussage revidieren", wuchs er in einer Zeit auf, deren Kirchenfeindlichkeit noch größer war als heute.

Für alle Christen gut Ozanams Leben und Wirken als engagierter Laie geht alle Christen an, es hat durch die Jahrhunderte nichts von seiner Strahlkraft verloren. "Voller Kraft und Jugend soll sich der Glaube plötzlich vor der Welt auftun, sich an die Spitze des neuen Jahrhunderts stellen und es zur Zivilisation, zum Glück führen," glaubte Ozanam. Diese Art von Glauben ist auch für das neue Jahrtausend noch gut genug.

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