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Latein, eine lebendige Sprache

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Vier Monate nach dem Erscheinen von „Veterum Sapientiae“, der Apostolischen Konstitution über das Latein in der Kirche, hat die Kongregation für Seminare und Universitäten jetzt in den Acta Apostolicae Sedis eine Reihe von Verordnungen veröffentlicht, in denen die Bestimmungen der Konstitution für die Praxis ausgearbeitet wurden.

Nach einer Einleitung, worin erneut auf den Wert der lateinischen Sprache für die Kirche und den ausdrücklichen Willen des Papstes, das Latein wieder zur lebendigen Sprache der Kirche zu machen, hingewiesen wird, werden in acht Kapiteln allgemeine Richtlinien gegeben, die im Studienjahr 1963/64 in Kraft treten sollen. In den Knabenseminaren muß mindestens durch sieben Jahre Latein unterrichtet werden. In den theologischen Lehranstalten und auf den kirchlichen Fakultäten muß das Studium mit einem Kurs über die lateinische Kirchensprache und besonders der Kirchenväter fortgesetzt werden. Für das Griechische gelten ungefähr dieselben Richtlinien. In jedem Land wird eine Kommission von Experten den genauen Studienplan festlegen und von Rom überprüfen lassen.

Als die apostolische Verordnung 2ur Förderung des Lateinstudiums erlassen wurde, erhielt die Studienkongregation die Anweisung, ein Institut zu gründen, das sich der Pflege des lebendigen Lateins widmen soll und unter anderem auch ein den modernen Anforderungen entsprechendes lateinisches Lexikon zu erstellen hat. Ebenso sollen Vorlesungen über die einzelnen Stadien der lateinischen Sprachentwicklung gehalten werden.

In diesem Zusammenhang erhebt sich die grundsätzliche Frage, was überhaupt eine Sprache ist und was man unter lebendigem Latein verstehen soll. Eine Sprache ist nach neuerer Anschauung nicht ein rein mechanisches Instrument, sondern Ausdruck einer bestimmten Kultur, einer bestimmten Denkform. Sie ist ein psychologisches, physiologisches und soziologisches Phänomen, da sie im wesentlichen dazu dient, menschliche Gedanken und Empfindungen anderen Menschen mitzuteilen. Nach neuerer Anschauung vollzieht sich menschliches Denken nicht in allgemein gültiger universaler Form, sondern es erfolgt differenziert, und zwar differenziert nach der Kultur. Ebenso ist ein Zusammenhang zwischen Denkform und Sprachstruktur anzunehmen. Besonders aus christlicher Sicht erscheinen diese Hypothesen erhärtet, denn sonst hätte etwa der biblische

Bericht vom Turmbau zu Babel nur einen halben Sinn. Die heilsgeschichtliche Bedeutung liegt in der Verwirklichung des göttlichen Auftrages „die Erde zu erfüllen“, also in eine räumlichen Differenzierung, gleichzeitig aber durch die Verwirrung der Rede (der Zerstörung der Einheit der Denkform) in einer geistigen Differenzierung, der geistigen Trennung der Auserwählten von allen anderen, die heilsgeschichtlich betrachtet ins Dunkel zurücksinken. Dies ist eigentlich die letzte Begründung für den Aufbau verschiedener Kulturen. Die Hypothese von der Interdependenz von Denkform und Sprachstruktur erscheint wieder durch das Schicksal der lateinischen Sprache.

Bei der lateinischen Sprache sind im wesentlichen drei Entwicklungsstadien festzustellen: die Zeit des klassischen Lateins, die Zeit des mittelalterlichen

Lateins und die Zeit der Reklassifika-tion. So entsprach etwa das mittelalterliche Latein der gemeinsamen christlich-abendländischen Kultur des Mittelalters, während das reklassifizierte Latein wesentlicher Teile seiner kulturellen und soziologischen Basis beraubt wurde und damit die Bindung an seine Zeit und die Menschen dieser Zeit verlor. Es wäre genau dasselbe, als wenn man unsere neuhochdeutsche Schriftsprache durch einen althochdeutschen Dialekt ersetzen würde und dann versuchte, diesen Dialekt durch ein modernes Vokabular zu bereichern, während die althochdeutsche Struktur beibehalten bliebe. Das heißt: Wenn von einem lebendigen und modernen Latein gesprochen wird, muß man sich die Frage vorlegen, was eigentlich vom Lateinischen lebendig und modern ist. Wie könnte die lateinische Sprache heute aussehen, wenn sie nicht durch das Aufkommen des europäischen Nationalismus und gleichzeitig durch die Unheilstat der Reklassifikation in ihrer natürlichen Entwicklung unterbrochen worden wäre? Diese Frage ist nur an Hand vergleichender Sprachstudien auf der Grundlage der modernen Sprachen zu beantworten, die sich aus dem Lateinischen entwickelt haben oder durch das Lateinische in ihrer Entwicklung beeinflußt wurden. Wenn man nicht engherzig ist, kann man alle europäischen Sprachen als Nachfolger des Lateins bezeichnen, denn tatsächlich ist etwa die Struktur der deutschen oder der russischen Sprache „lateinischer“ als die einer der „direkten“ Nachkommen des Lateins, der romanischen Sprachen.

Vergleichende Studien dieser Art wurden schon öfter unternommen, wobei ein im wesentlichen gleichartiges Vokabularium erstellt wurde, während je nach der Methode der Ausarbeitung eine mehr angloide oder mehr romanische Struktur herauskam.

Ein kleines Beispiel soll dies kurz erläutern:

Wenn man etwa Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch und eventuell Deutsch als Quellsprachen für die Erstellung eines Neolateins heranzieht, dann kann man sagen, daß sämtliche dieser Sprachen einen bestimmten Artikel besitzen, das heißt, daß vom Standpunkt dieser Sprachen ein bestimmter Artikel für die neolateinische Sprache unbedingt notwendig ist. Bei den angeführten romanischen Sprachen und bei der deutschen Sprache ist der bestimmte Artikel nach dem Geschlecht differenziert, während die englische Sprache für alle Geschlechter nur eine Form des Artikels kennt. Vom Standpunkt einer auszuarbeitenden Mindestgrammatik, das heißt der strukturellen Übereinstimmung mit sämtlichen Quellsprachen, wird die neolateinische Sprache nur eine Form des bestimmten Artikels notwendig haben. Wenn man jedoch von dem Standpunkt der strukturellen Übereinstimmung mit sämtlichen Quellsprachen abgeht und sich eventuell nur mit einer Übereinstimmung mit etwa drei der fünf Quellspracheneinheiten zufrieden gibt, erhält man ein Neolatein, bei dem der bestimmte Artikel nach dem Geschlecht differenziert ist, so daß dadurch der Einfluß der englischen Sprache auf die Struktur der zu erstellenden Sprache zum Verschwinden gebracht wird.

Je nachdem nun der Einfluß der englischen Sprache auf die Struktur der neolateinischen Sprache berücksichtigt wird oder nicht, erhält man eine Sprache mit mehr angloider oder mehr romanischer Grammatik. Welche dieser Formen für ein modernes Latein, das sowohl als europäische Verkehrssprache als auch als Kirchensprache sehr vorteilhaft zu verwenden ist, vorzuziehen wäre, ist nicht zu beantworten. Vom psychologischen und soziologischen Standpunkt scheint eher ein Neolatein mit englischer Grammatik vorzuziehen sein, während vom Standpunkt einer reicheren und präziseren Ausdrucksweise die integrale romanische Form als vorteilhaft anzusehen ist.

Als hervorragendes Beispiel für ein Neolate1rx;init anrglfrider Grammatik ^se “die Interlingua der IALA (International Aüxiliary Language Association New York) erwähnt, die in den letzten Jahren besonders auf medizinischem Gebiet einige Anwendung gefunden hat, während von einem Neolatein mit integraler romanischer Grammatik einige rudimentäre Einmannprojekte bekannt sind (zum Beispiel von Adolf Fritzsche in Frankfurt am Main). Tatsächlich wäre es sehr verdienstvoll und interessant, an einem entsprechenden Institut beide möglichen Sprachsysteme erstellen zu lassen, um den wahren Unterschied festzustellen. Vielleicht könnte man auf Grund der Vergleiche Formen erarbeiten, die beim angloiden System als zusätzliche, wahlfreie Formen angegeben werden könnten und zu einer Bereicherung und Präzision dieser Sprachvariante beitragen würden.

Es ist natürlich klar, daß derartige Forschungen, Untersuchungen und Überprüfungen nicht von einzelnen Personen durchgeführt werden können, sondern nur von einer Gemeinschaft hochqualifizierter Sprachwissenschaftler, und daß diese Arbeiten Jahre in Anspruch nehmen würden. (Die Forschungen der IALA erstreckten sich zum Beispiel von 1924 bis 1951 unter Mitarbeit hervorragender Sprachgelehrter.) Auf der anderen Seite wieder ist wertvollstes Material bereits vorhanden und brauchte nur auf seine Richtigkeit überprüft zu werden.

Besonders an dem von der Studienkongregation zu gründenden Institut, dem sicherlich hervorragende wissenschaftliche Fachkräfte angehören werden, könnten diese Forschungen und Überprüfungen zusätzlich zu den von der Kirche geforderten Arbeiten durchgeführt werden, wobei gewiß auch vom Standpunkt der vergleichenden Sprachwissenschaft wertvollste Ergebnisse zu erwarten wären.

Die Kirche, die entscheidend das Antlitz des Abendlandes geprägt hat, würde damit eine Tat setzen, die weit in die Zukunft weist: Mitarbeit an der Erstellung der gemeinsamen europäischen Sprache, die gleichzeitig die wahre Kirchensprache ist und auf Grund ihrer soziologischen Basis weltweite Anerkennung als internationale Sprache finden könnte.

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