Leben auf Augenhöhe

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Dieter Thomä, Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen, referierte beim Philosophicum Lech unter dem knappen Titel "Glück, 1776“. Die Verankerung des "Strebens nach Glück“ in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 bezeichnet Thomä als "Fanal“. Das Gespräch führte Simon Varga

Der Philosoph Dieter Thomä plädiert für eine Synthese aus individualistischem und gemeinschaftlichem Glücksstreben, die er "sympathetisches Glücksstreben“ nennt.

Die Furche: Ein großer Teil Ihrer Forschungen kreist um die Frage nach dem guten Leben des Menschen. Was kann die Philosophie zu einem guten bzw. geglückten Leben beitragen?

Dieter Thomä: Die Leistung der Philosophie besteht nicht darin zu zählen, wie viele Menschen in dem einen Land behaupten, glücklich zu sein, und wie viele in einem anderen Land. Der Beitrag der Philosophie besteht vielmehr darin, dass sie denjenigen zur Seite springt, die sich diese ganz normale Frage stellen: Was meine ich eigentlich, wenn ich sage, dass ich glücklich oder aber auch unglücklich bin? Es geht also um begriffliche Klärung und um ein Ausloten des Echoraums von Bedeutungen. Hierbei ist nicht ausschließlich die Logik gefragt, sondern ein Vergleichen von verschiedenen Begriffsnetzen, in denen wir uns darüber Gedanken machen, was es heißt ein glücklicher Mensch zu sein.

Die Furche: In der antiken Philosophie findet sich der Ansatz, dass dem Staat ein wichtiger Stellenwert in Bezug auf das Glück des Menschen zukommt. Halten Sie diesen Ansatz für zeitgemäß?

Thomä: Schon in der Antike hat eine Spannung zwischen dem Glück als Staatsziel und dem Glück des Einzelnen als Ziel oder Zweck des Lebens vorgeherrscht. Einmal geht es um die kollektive, einmal um die individuelle Sichtweise in Bezug auf das Glück. Diese Spannung ist heute brandaktuell. Die psychologische bzw. soziologische Glücksforschung ersetzt häufig auf der einen Seite den Glücksbegriff durch das "Wohlbefinden“. Die Ökonomen sprechen auf der anderen Seite hingegen oft von "Wohlfahrt“. Es ist ganz offensichtlich, dass hier von zwei unterschiedlichen Bezugspunkten gesprochen wird: das Wohlbefinden aus individueller, persönlicher Perspektive, die Wohlfahrt aus gemeinschaftlicher Perspektive, als Hausaufgabe des Staates. Ich denke, dass wir sehr bewusst mit dieser Doppelung im Hinblick auf das Glück umgehen müssen. Denn man merkt überaus deutlich, dass wir in der Moderne zum Teil unproduktive Debatten führen, wenn wir uns ausschließlich auf eine der beiden Seiten konzentrieren.

Die Furche: Sehen Sie in Bezug auf die Glücksverantwortung des Staates die Gefahr eines ausufernden Paternalismus?

Thomä: In dem Bild des Paternalismus stecken zwei Seiten. Zum einen das des strafenden, zum anderen aber auch das des gütigen Vaters. In starken Wohlfahrtskonzepten steckt in der Tat etwas Paternalistisches, in diesem Falle aber das Bild eines gütigen Vaters. Ich würde ein starkes Wohlfahrtsstaatskonzept in diesem Sinne aber durchaus verteidigen. Jedoch mit dem Zusatz, dass nicht nur der Staat über die Bürger Bescheid weiß, sondern die Menschen, die den Staat gestalten, etwas über sich selbst und auch etwas über die anderen Menschen wissen und so zum Gemeinwohl im Interesse aller beitragen. Es geht mir dabei um die Kenntnis anthropologischer Grundbedingungen gelingenden Lebens: Arbeit, Gesundheit, Soziales, Freundschaft etc. Dass der Staat gestaltend wirkt und gelingendes Zusammenleben ermöglichen möchte, ist meiner Ansicht nach keine Bevormundung im Sinne eines strafenden Paternalismus.

Die Furche: In manchen Schulen gibt es mittlerweile das Schulfach "Glück“. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Thomä: Ich bin nicht sehr begeistert von den modischen Erfindungen neuer Schulfächer. Was ich gut finde, ist, dass es einen Raum für Kinder und Jugendliche gibt, in dem die Grundfragen des Lebens diskutiert werden, und wo sozialer Austausch betrieben wird. Wenn das ein Fach "Glück“ leistet, soll es mir Recht sein. Den sozialen Kompetenzen der Kinder könnte das überaus gut tun. Aber ob das Fach dann wirklich "Glück“ heißen soll, ist fraglich. Ich sehe darin eher ein Modephänomen. Die Suggestion, dass alle glücklich oder fröhlich aus diesem Unterricht heraus gehen, würde ich doch stark bezweifeln. Denn es geht dabei - will man das Thema umfassend behandeln - sicherlich um sehr ernste Fragen, nämlich auch um das Unglück, um Tod, Hass und Gewalt.

Die Furche: Welche Bedeutung hat der 4. Juli 1776, der Tag der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und die Verankerung des "Life, Liberty and the Pursuit of Happiness“ für das Glücksverständnis heute?

Thomä: Dieser Satz von Thomas Jefferson ist ein Fanal. Die Menschen haben nicht nur das Recht auf Leben und Freiheit, sondern auch auf das "Streben nach Glück“. Das Glück ist hier deutlich mit dem Streben des Menschen danach verbunden worden. Dieser Ansatz ist relativ neu. Denn es gab viele Glücksvorstellungen zuvor, in denen das Glück einem Geschenk oder einer Gnade gleichkommt. Es fällt zu, man kann darauf warten, aber man kann es nicht produzieren oder ihm hinterher laufen. Nun gehört zur Moderne die Emanzipation des menschlichen Subjekts als eines handelnden Wesens. Es ist zwar schon in der Antike vom Glück als Ziel die Rede, aber diese massive Formulierung vom aktiven "Streben nach Glück“ führt natürlich zu einer enormen Aufwertung des persönlichen Zugriffs auf das individuelle Glück. Damit haben wir uns aber etwas eingebrockt, das eine Licht- und Schattenseite zugleich hat. Denn es ist natürlich eine maßlose Übertreibung zu denken, dass wir uns mit diesem "Streben nach Glück“ begnügen könnten oder uns damit schon das Glück in die Hände fiele.

Die Furche: Welche Glücksmodelle bietet Ihrer Meinung nach diese "Glücksformel der Moderne“ an?

Thomä: Wenn man diesen Ansatz von Jefferson entschlüsselt, so stößt man im Prinzip auf alle grundlegenden sozialen Fragen des Zusammenlebens in modernen Gesellschaften heute. Drei Bedeutungen werden dabei sichtbar: erstens die Bedeutung, dass es hier um ein individualistisches Bedürfnis geht sich zu entfalten, voranzukommen, eventuell auch sich zu bereichern. Eine enorme Freisetzung des Individuums, also eine Art liberalistisches Glücksstreben. Zweitens die Bedeutung eines öffentlichen, politischen Glücks. Politisches Glück klingt in unseren Ohren heute fremd. Was Jefferson damit meint, ist eine Glückserfahrung, die entsteht, wenn man in einem politischen Gemeinwesen mitgestaltet und sich engagiert. Also eine Art von republikanischem Glücksstreben. Es ist dies ein durchaus ernstes Anliegen, in einer Demokratie zu leben und auch aktiv daran teilnehmen zu wollen. Drittens und am wenigsten beachtet ist das - wie ich es nenne - sympathetische Glücksstreben. Dieses liegt zwischen dem individualistischen Glücksstreben, das leicht auch in ein rein egoistisches Streben umschlagen kann, und dem gemeinschaftlichen, dem republikanischen Glücksstreben.

Die Furche: Was bedeutet das "sympathetische Glück“ für den Menschen?

Thomä: Zu den Glücksquellen gehört meiner Ansicht nach die Erfahrung an einer Ordnung beteiligt zu sein bzw. an einer gemeinsamen Sache mitzuwirken, die eine gute Sache ist. Zu den Glücksquellen gehört schließlich das Leben auf Augenhöhe. Es hat meiner Meinung nach seine Feiertage in der Liebe und den Alltag in sozialen Beziehungen, in denen dem Menschen Erfahrungen der Gleichheit mit anderen zugänglich werden.

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