Lieber die Taube auf dem Dach ...

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... als den Spatz in der Hand - so das Motto des 90-jährigen Metropoliten Eirenaios, Spiritus Rector der Orthodoxen Akademie Kretas, einer erstaunlichen und einzigartigen Einrichtung.

Orthodoxe Akademie Kretas" - das klang auch für mich damals vor fast zehn Jahren eher nach steriler religiöser Langeweile, nach akademischem Palawer. Das war es aber nicht und ist es auch nicht. Dafür bürgt schon die Umkehrung der alten Spruchweisheit vom Spatzen in der Hand und der Taube am Dach. In der Diktion des inzwischen fast 90-jährigen Bischofs Eirenaios, dem Metropoliten der Diözese Kisamos und Selinon heißt das nämlich: "Lieber die Taube am Dach als den Spatz in der Hand." Er erläutert, dass der Spatz in der Hand nichts anderes sei als die tägliche kleine aber dumm machende bürgerliche Sicherheit, die Taube dort am Dach aber ein Symbol sei für das Mögliche, für die Vision für Morgen, ein Zeichen der Zeit, das Zukunft in sich trägt. Das Lächeln in den jugendlich blitzenden Augen des alten Kirchenmannes, der auf dieser wunderbaren Insel soviel geleistet hat, hat mich überzeugt, mehr aber noch sein Tun, sein Handeln aus dem Geist des Evangeliums.

Gewachsen ist das alles aus dem Trauma der deutschen Invasion von 1941 und der bis 1945 währenden Besetzung. Es waren schreckliche Jahre für die Bevölkerung Kretas, die sich auf einen Partisanenkrieg mit den Besatzern eingelassen hatte. Und mitten drin waren damals der junge Priester Eirenaios und einer seiner Schüler, die zu einem kongenialen Paar für den Wiederaufbau Kretas geworden sind.

Für Eirenaios, den älteren, war schon immer klar: "Theorie und Praxis, Glaube und Leben, Religion und Politik, sind nicht jeweils zwei Paar Schuhe, sondern eine Einheit." Den jungen Alexandros Papaderos, dessen Fähigkeiten er früh erkannt hatte, schickte er erst zum Studium nach Deutschland, quasi als Faustpfand für eine notwendige Versöhnung trotz allem, was geschehen war.

Inzwischen fing Eirenaios - sehr jung zum Bischof geworden - an, den Menschen seiner Diözese und darüber hinaus, auf die Sprünge zu helfen. Die Landwirtschaft lag darnieder; die Jugendlichen saßen ungebildet, verstört und chancenlos in ihren Bergdörfern; die Frauen stöhnten unter der Enge der traditionellen Gesellschaft und der schier unerträglichen Last der Sorge um ihre Familien. Er wurde zum Hirten, der den Schrei seines Volkes mit sensiblen Ohren hörte und unglaubliche Phantasie im Tun entwickelte.

Eirenaios baute in allen größeren Orten kleine Internate und ermöglichte so den Kindern aus den Bergen, eine Schule zu besuchen, und diesmal wirklich "den Kindern", denn erstmals hatten auch die Mädchen eine Chance auf Schulbildung. Er fuhr nach Athen und forderte den Bau einer technischen Schule, denn sonst musste jeder, der Mechaniker werden oder ein Handwerk lernen wollte, aufs Festland, und das konnten die Familien sich nicht leisten. Er blitzte ab, fuhr zurück und begann Geld zu sammeln, um selber ein technisches College bauen zu können, was auch gelang. Ein Fährunglück forderte hunderte Tote. Wieder fuhr er nach Athen und verlangte eine Fähre, die den Sicherheitsvorschriften entsprechen sollte. Wieder ein Nein der Zentrale. Eirenaios bestellte in Hamburg ein Fährschiff, gründete eine Genossenschaft, legte eine Volksaktie auf und bezahlte aus dem Erlös nicht nur das Schiff, sondern ein Schifffahrtsunternehmen, das noch heute aus der wirtschaftlichen Realität Kretas nicht wegzudenken ist. Diese Liste ließe sich fortsetzen.

Als ich den alten Herrn frage: "Ist das alles wirklich Aufgabe eines Bischofs?" fragt er verschmitzt lächelnd zurück: "Was sonst? - Wir sind da, um Gott in den Menschen zu dienen und nicht nur, um Hymnen zu singen."

Diese Art, eine Diözese zu leiten, hat während des griechischen Obristenregimes Anstoß erregt. Die damals sehr schwache orthodoxe Synode erwies sich als willfähriges Werkzeug der Militärs und versetzte Eirenaios nach Deutschland. Als sie nach Abgang seines ziemlich unfähigen, politisch angepassten Nachfolgers einen neuen Bischof einsetzen wollten, haben sie allerdings die Rechnung ohne den Wirt, ohne das kampferprobte und durchaus kampflustige Volk Kretas gemacht. Die Leute versperrten die Kirchentüren, die Tore des Bischofshauses mit Ketten. Die Aufschriften: "Nur unser Vater Eirenaios wird diese Ketten lösen." Protestaktionen - auch die Orthodoxe Akademie schloss aus Protest ihre Pforten - Demonstrationen, Umzüge mit Transparenten und lautstarken Parolen erschütterten die heilige Ruhe von Kisamos und Selinon. Und dann kam es zu einer "nur ein bisschen gewalttätigen Entführung" des wegen einer Familienangelegenheit inkognito heimgekehrten Hirten. Das Happy-End: Das Volk hat gegen das Militär gesiegt und hatte seinen Vater und, wie es heißt, seine Seele wieder.

Ohne Kenntnis dieser Wurzelgeschichten versteht man nicht, was die Orthodoxe Akademie Kretas ausmacht. Aus diesem Geist des Widerstands und quasi als akademischer, theoretischer Hintergrund der ohnehin allüberall wirksamen Praxis, ist sie 1965 gegründet und 1968 eröffnet worden. Ihre ideelle Basis: der Aufbau neuer sozialer Strukturen mit der Befreiung der Frauen aus den alten Ghettos, die konkrete Förderung der Jugend, die Züchtung erntefreundlicher Olivenbäume und einer ertragreicheren und doch der kargen Landschaft angepassten Ziegenrasse und viele andere realisierte Ideen mehr. Die materielle Basis: Der Abt des uralten Mönchsklosters Gonia, der Gefallen an den Ideen und deren Umsetzung gefunden hatte, stellte in der Bucht von Chania ausreichend Land zur Verfügung, auf dem unter anderem ein schlichtes Gebäude entstand als Ort des Gesprächs, des internationalen Dialogs und der Bildung.

Über dieser wunderschönen, nach Westen offenen Bucht hat sich unter der Führung der beiden Männer, Bischof Eirenaios und Alexandros Papaderos eine Brücke zwischen Okzident und Orient, hat sich ein weltoffener Dialog sein Nest gebaut: Neben der Priorität der Aus- und Weiterbildung der Gläubigen der orthodoxen Kirche Kretas, Priester wie Laien - die nicht Athen, sondern dem Ökumenischen Patriachat in Konstantinopel untersteht - hat sich eine Plattform des Diaolgs entwickelt, zwischen den Religionen und Konfessionen, zwischen Theologie und Ökologie, Theologie und Wissenschaft, Theologie und Politik, Theologie und den Künsten, zwischen Menschen und Generationen, woher immer sie kommen mögen.

Dort kann es an einem kühlen Frühlings- oder lauen Sommerabend passieren, dass man plötzlich an einem Tisch mit Menschen aus zwölf Nationen und fünf verschiedenen Konfessionen sitzt und zwanglos den Weg in tiefschürfende Gespräche findet. Da sind Studenten aus Australien, eine Krankenpflegerin aus Österreich, ein Philosophieprofessor aus Berlin, eine pensionierte Lehrerin aus Dänemark, ein amerikanischer Bestseller-Autor und der Sprachtrainer der Royal-Shakespeare-Company, die sich über Welt- und Zukunftsfragen ernsthaft auseinander setzen. Das ist dann die Normalität eines kretischen Festes vor dem neuen Konferenzzentrum, das im Auftrag der Athener Regierung ein renommierter Architekt in die Bucht neben der alten Akademie geklotzt hat.

Hier bleiben Miteinander und das Füreinander das wesentliche Grundmuster, das unter anderem auch in einer Legende aus dem 4. Jahrhundert wurzelt: Der Wüstenvater Makarios stieß auf einer Wanderung auf einen menschlichen Schädel. Er begann mit diesem zu reden begonnen. Die Stimme aus dem Schädel erzählt, dass er ein heidnischer Opferpriester gewesen sei und jetzt in der Hölle Qualen leide. Und die berichtet, dass nicht die Flammen, nicht die Hitze das Schlimmste sei, sondern die Tatsache, dass man paarweise mit den Rücken aneinander gefesselt sei, sodass man einander nicht sehen kann: "Nur wenn du, Heiliger Mann für uns betest, dann lösen sich die Fesseln manchmal so weit, dass wir einander von Angesicht zu Angesicht sehen können, das lindert unsere Qual."

Aus dieser alten Legende ist vor Jahren ein internationales Kunst-Projekt entstanden, das sich "Face to Face" nennt und zu dem aus der ganzen Welt, auch aus Österreich, Kunstwerke eingegangen sind, die versuchen, sowohl die eine, wie die andere Dimension darzustellen. Und wenn sich in diesem Sommer Lehrer und Studenten aus verschiedenen Ländern der Welt in dem etwas entfernt, hinter einem Hügel, in einer anderen Bucht gelegenen Amphitheater zusammengefunden haben dann geht es zum Beispiel darum, dass diese jungen Leute in wochenlanger Zusammenarbeit die alte kretische Minotaurus-Legende ins Heute und Morgen hinein erarbeiten. Das ist genau das, was ich als Zeichen des Geistes der Orthodoxen Akademie verstehe: Das versöhnte Miteinander im Heute suchen, gemeinsam aus den Quellen der Vergangenheit trinken, um Kraft für die gemeinsame Zukunft auszubauen.

Die Orthodoxe Akademie Kretas

hat Raum für kleine und größere Gruppenreisen als Teil eines Urlaubs, hat alle Voraussetzungen für Kongresse, Workshops, nationaler oder internationaler Ausrichtung ... Informationen: Orthodox Academy of Crete, GR-73006 Kolympari-Chania, Tel.: 0030-824-22245/22500, Fax: 0030-824-22060

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