Lieber Vater

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Ein Brief meines ungeborenen Sohnes

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Ein Brief meines ungeborenen Sohnes

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Lieber Vater, ich weiß nicht, ob du mein Schreiben erhalten wirst. Du bist inzwischen schon steinalt, aber ich hörte, du seist noch am Leben. Ich bin jetzt selbst bald fünfzig, und die Welt hat sich seit meiner Geburt zur Jahrtausendwende nicht gebessert; eher im Gegenteil. Und mit der Geburt begann für mich ja schon das Dilemma.

Wie so viele eurer Generation unterlagen auch Mutter und du dem Gefühl, daß man ein Kind nicht unbedingt haben will, sondern einfach zu haben hat. Ihr wart die Wirtschafts- und Konsumgeneration, die sich alles leisten konnte, wenn sie nur wollte - also neben Wohnung, Haus und Zweitcomputer eben auch ein Kind. Habt ihr euch je überlegt, was es bedeutet, mich zu bekommen? Die Verantwortung zu übernehmen? Oder ging es euch nur darum, zu beweisen, daß man Familie und Karriere unter einen Hut bringen kann?

Freilich, ihr entstammtet den Nachkriegs- und Aufbaumenschen, und ihr habt ebenfalls hart gearbeitet, so hart, daß ihr euch mehr Freiheiten leisten konntet. Ja, das ,"Können" assoziiere ich mit euch: ihr konntet alles, konntet euch alles leisten, alles erreichen. Ihr konntet euch selbst verwirklichen - und das so gut, daß ganze Wirtschaftszweige sich darauf spezialisierten, auf Wellness und LifeStyle, auf MindBalance und BodyCare. Ihr wart so versessen drauf, zu euch selbst zu finden, daß ihr nicht merktet, was ihr zurücklaßt. Oh ja, ihr habt mir ein Heim geschaffen, ein buntes Kinderzimmer und einen Satellitenempfang neben dem Gitterbett, aber habt ihr euch je darüber Gedanken gemacht, ob ich das auch wollte? Ob es gut für mich war? Haben mir die vierundzwanzig Kabelkanäle meinen Vater ersetzt? Half es mir, daß Mutter sich in ihrem Beruf verwirklichen konnte und ich sie zwischen Schule, Klavierspiel und Sporttraining stets kurz, aber lächelnd zu Gesicht bekam? Nein.

Versteh mich nicht falsch: ich hätte eurer Generation noch Tausende weitere und größere Dinge vorzuwerfen. Das verseuchte Essen, die rußige Luft, die öligen Meere. Die Gleichgültigkeit, die ihr gegenüber Fanatismus und Intoleranz an den Tag gelegt habt. Und die Gespenster des Rassismus und der Niedertracht, die ihr wieder aus den sauberen Kellern eurer westlichen Festungen gelassen habt.

Aber ich will - muß - subjektiv bleiben, kann dir nur von meinem eigenen Schicksal erzählen - das mit deiner Erziehung seinen Lauf nahm. Klingt es für deine Ohren konservativ, wenn ich dir sage, ihr hättet mich überhaupt mehr "erziehen" sollen? Darunter verstehe ich die Fähigkeit, sich auf sein Kind einzulassen, ihm ein bestimmtes und - ja, nennen wir es moralisches - Weltbild mit auf den Weg zu geben. Dem Kind zu zeigen, wie es sein Leben richtig leben kann und sei es auch nur richtig in den Augen der Eltern, mit all ihren Fehlern. Aber ihm überhaupt eine Richtung geben!

Eure Entscheidungen habt ihr auf mich abgewälzt. Den Begriff der antiautoritären Erziehung im Munde geführt und doch stets nur eine Nicht-Erziehung praktiziert. Willst du in die Hauptschule oder in die höhere Schule? fragtet ihr mich. Aber habt ihr mir auch erzählt, wie mein Leben ausschauen soll? Nein, ihr habt mich mir selbst überlassen, während ihr auf Urlaub fuhrt. Meditationsseminare besuchtet. Geschäfte machtet. Euer eigenes Leben lebtet - nicht mit, sondern trotz eurem Kind. Natürlich, es hätte schlimmer kommen können, ich bin noch verhältnismäßig wenig aus den Bahnen geraten. Doch ist das euch zu verdanken?

Eure Gesellschaft hat uns wohl wahrgenommen: als Konsumenten. Ihr richtetet euer Produktdesign nach uns aus, nanntet uns die "Generation Next" oder "Generation @" - und übersaht dabei, daß wir doch einfach nur eure Kinder waren, die sich weder nach Technik noch Unterhaltung sehnten, sondern einfach nur danach, von euch geliebt zu werden. Statt dessen habt ihr uns mit Waren zugeschüttet. Freilich, auch ihr seid dort hineingetrieben worden: permanent habt ihr euch von den Medien erzählen lassen, wie notwendig ein Turbodiesel sei oder Extremsport im Freizeitclub. So hat schließlich auch Mutter zu arbeiten begonnen, damit sie wenigstens ein bißchen von dem verdiente, was du bekamst. Ich verstehe, warum sie so gehandelt hat. Aber ich werfe euch beiden vor, daß ihr nicht erkannt habt, wie sehr ihr von der Gesellschaft und den Medien gesteuert wurdet. Auf Inline-Skates seid ihr dem Zeitgeist hinterhergehetzt, in Wochenendworkshops habt ihr versucht, jung zu bleiben. Heute weiß ich, daß ihr mir nur eines mitgegeben habt: eure Orientierungslosigkeit!

Bald habt ihr euch scheiden lassen, und ich wurde fortan in Besuchszeiten aufgeteilt. Ich weiß, daß eure Eltern oft nur unter dem Vorwand, es sei "wegen der Kinder", zusammengeblieben sind, trotz aller Streitigkeiten. Ihr aber habt es gar nicht lange probiert; jeder von euch wollte sein eigenes Leben führen, sich selber finden in irgendeiner Tai-Chi-Gruppe. Ihr habt euch scheiden lassen, einfach weil ihr es konntet. Ihr habt euer Kind geteilt, weil ihr es konntet. Ihr habt mich hinter euch her gezogen, weil ihr es konntet. Wie es mir dabei ging, habt ihr euch nie gefragt.

Mit siebzehn verließ ich die Schule und wußte nicht, wohin. Von euch erwartete ich ohnehin keinen Rat. So viele Möglichkeiten ließ eure Gesellschaft offen, daß ich mir wie ein freigelassenes Tier bald nichts sehnlicher wünschte, als in meinen Käfig zurückzukehren.

Doch die Tür war verschlossen, wieder habt ihr mir die Entscheidung überlassen. Und in der Konsumgeilheit eurer Welt blieb mir nichts übrig, als ebenfalls einen Job nach dem anderen zu nehmen, immer auf der Suche nach etwas, das mir Erfüllung verschaffen mochte. Wie oft habe ich an dich gedacht, Vater, und mich gefragt: hast du es geschafft, das zu tun, was du eigentlich willst? Oder suchst du immer noch in Zeitschriften und Halbjahresbilanzen, was du glaubst, erreichen zu müssen?

Nun bin ich alt und selbst viel in der Welt herumgezogen. Eine eigene Familie habe ich nie gegründet. Ich wüßte nicht, wie ich mich als Vater verhalten soll, denn von dir habe ich es nie gelernt. Vielleicht hatten jene Marketingstrategen eurer Tage recht, die uns ganz einfach die "Lost Generation" nannten, die Verlorenen. Denn so fühle ich mich, lieber Vater, und das ist es, was ich dir schließlich vorwerfe: ich bin ein Verlorener in der toten Welt, die du mir hinterlassen hast.

Trotz allem in Erwartung deiner Antwort, dein ungeborener Sohn, Mai 2049 Der Sieger Uwe Neuhold, 1971 in Bregenz geboren, hat in Viktring in Kärnten Volksschule und Gymnasium besucht. Er arbeitete seit 1989 als Computerprogrammierer, Werbedesigner und PR-Texter und ist seit 1997 leitender Mitarbeiter einer Agentur in Klagenfurt. Nebenberuflich ist er als Schriftsteller (schon mit mehreren Preisen, sein neuer Roman heißt "Gruben") und Kunstmaler tätig.

Zum Thema "Die unbewältigte Gegenwart - Was werden künftige Generationen der heutigen vorwerfen?"

Zu diesem Thema hat die Furche ihren heurigen Essay-Wettbewerb, bereits den insgesamt dritten, für junge Leute ausgeschrieben. Das Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten hat den Bewerb und den Abdruck der sechs mit Preisen bedachten Beiträge in großzügiger Weise unterstützt, wofür wir sehr dankbar sind. Die Jury bildeten neben den Mitgliedern der Furche-Redaktion die Furche-Kolumnistin Irene Dyk, Universitätsprofessorin in Linz, und zwei Ex-Chefredakteure der Furche, der langjährige Herausgeber Felix Gamillscheg und der ständige Kolumnist Hubert Feichtlbauer.

Wie schwierig die Entscheidung zwischen den insgesamt 45 Einreichungen war, läßt sich für unsere Leserinnen und Leser sicher schon aus der wirklich empfehlenswerten Lektüre der hier abgedruckten Texte ermessen. Wie denkt die jüngere Generation über das Erbe, das unseren Nachkommen bleibt? Für das rege Nachdenken über diese Frage dankt Die Furche.

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