Lückenlose Herrschaft des "Büros"

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50 Jahre nach dem Erscheinen des Romans Der achte Tag lohnt es sich, Friedrich Heers Anti-Utopie wieder zu entdecken.

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50 Jahre nach dem Erscheinen des Romans Der achte Tag lohnt es sich, Friedrich Heers Anti-Utopie wieder zu entdecken.

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Mit seinem Roman Der achte Tag (1950) versetzt uns der Historiker und Kulturpublizist Friedrich Heer ins Wien des späten 21. Jahrhunderts. Er veröffentlichte das Werk unter dem Pseudonym Hermann Gohde, dem Mädchennamen seiner Mutter. Heer begründete diesen Schritt damit, dass er als Wissenschaftler und Schriftsteller sein Anliegen sauberer auf zwei methodisch und formal getrennten Bahnen angehen könne.

Der achte Tag ist das fiktive Tagebuch des John Percy Brown über seinen Wiener Aufenthalt vom 12. bis 19. Juni des Jahres 109 Neuer Weltrechnung, das ist 2074 nach Christus. Es spielt in einem Weltstaat, der sich nach Jahren des Krieges in allen Bereich totalitär durchgesetzt hat. Die Herrschaft des Büros ist lückenlos, anonym und ungreifbar.

Der Autor beschreibt unter anderem eine organisierte Vergnügungswelt mit barbarischen Tier- und Menschenhetzen im Homodrom, öffentliche Schauprozesse, genormte Kunst und die Menschenzuchtanstalt Künnekür, in der neue Rassen und Menschenformen - etwa für härteste Arbeitsbedingungen - entstehen sollen. Die autonome Menschheits-Gesellschaft hat Gott ersetzt; ihre zehn Gebote (!), die auf das Büro als Inkarnation der autonomen Menschheits-Gesellschaft ausgerichtet sind, sind die verbindliche Gesellschaftslehre.

Die größten Feinde des Staates sind die Christen, die schweren Verfolgungen ausgesetzt sind. Getarnt als Menschenfreunde versuchen sie, Not zu lindern und den unterdrückten Menschen selbstlos zu helfen. Brown fühlt sich immer stärker zu dieser Gruppe hingezogen, wird schließlich enttarnt und zum Arbeitssklaven degradiert.

Zukunftsszenarien Heers Der achte Tag steht in einer Reihe mit den vielen "Zukunftsromanen", die um die Jahrhundertmitte von so unterschiedlichen Autoren wie den Briten Aldous Huxley (Brave new world, 1932) und George Orwell (1984, 1949), dem in die USA emigrierten Franz Werfel (Stern der Ungeborenen, 1945), der schwedischen Lyrikerin Karin Boye (Kallocain, 1940) oder dem konservativ-katholischen österreichischen Autor Erik Kuehnelt-Leddihn (Moskau 1997) unabhängig voneinander, aber mit auffallenden Parallelen, zu Papier gebracht wurden.

Friedrich Heer malt in Der achte Tag das Bild eines perfekten Überwachungsstaates an die Wand, in dem Elemente des Nationalsozialismus, Stalinismus und - hinsichtlich der zivilisatorischen Organisation - des Amerikanismus miteinander verschmelzen. Im Zentrum steht für Heer jedoch Analyse und Zukunft des Christentums: Wohin gehen wir heute, wenn wir uns weitertreiben lassen? [...] Dieser Not kann, das wissen wir alle, erst wirklich begegnet werden, wenn wir es wagen, ihrem innersten Gesicht zu begegnen: der Glaubensschwäche der Christen. (Friedrich Heer in der furche vom 9. September 1950). In Der achte Tag transferiere er Satire, Groteske und Höllenbild unserer Zeit in das imaginäre Bild einer auch äußerlich nach- und gegenchristlichen Welt, in einem Wien nach dem auch äußerlichen Untergange des Christentums", um zu zeigen, "wie in einer entgötterten und entmenschten Welt [...] ein neuer Tag aufgehen kann durch die Aktivität neuer Christen.

Der Reformkatholik verpackt in seinem Werk eine klare Warnung an die satte, zufriedene und/oder feige Christenheit (mit der er im Roman in Person von Professor Schumscheiner, Ordinarius für Ideologiekritik an der Universität Wien, abrechnet) und stellt ihr in den verfolgten Katakomben-Christen sein Ideal gegenüber. Diese um ihrer Sache willen Verfolgten trösten die Bedrückten, Gequälten, Vertriebenen und Deportierten des totalitären Büros. Sie zeichnen sich durch Glaubensstärke und Opferbereitschaft aus; sie gehen Pressionen und anderen Unbequemlichkeiten nicht aus dem Weg. Es ist eine geschwisterliche Kirche, die alle mittragen, die Option für die Armen nimmt. Gerade das macht sie für das Büro so gefährlich.

Der Pastoraltheologe Paul M. Zulehner sah in dieser "Zelle der Wiener Christenheit" ein visionäres Vorbild für die kirchlichen Basisgemeinden.

Reale Prophetien Weder die Zukunftsvision Heers noch Szenarien anderer Autoren sind in ihrer Gesamtkonzeption (bis jetzt) Realität geworden sind. So manche Tendenzen, die in Romanen angedeutet wurden, sind heute aber durchaus im Bereich des Möglichen. Gerade Christen sind aber zu erhöhter Wachsamkeit und zum rechtzeitigen politischen Handeln aufgerufen.

Im Folgenden nur einige Beispiele: n der Trend zur immer stärkeren Urbanisierung, wobei die Schere zwischen Wohlhabenden und Armen in der Stadt immer größer wird(H. G. Wells: A story of the days to come, 1933); * Genmanipulation von Embryos für Mischwesen aus Tier und Mensch. Ein derartiges Horrorszenario einer Wissenschaft ohne Ethik beschreibt Wells in seinem Roman The Island of Dr. Moreau (1896); * pränatale Eingriffe zur Normierung des Menschen (Aldous Huxley: Brave new world, 1934); * Überbevölkerung und Verarmung der Massen (John Brunner: Stand on Zanzibar, 1968); * Umweltverschmutzung und -zerstörung (John Brunner: The sheep look up, 1972); * militanter Rassenhass (Christopher Priest: Fugue on a darkening island, 1972); * maschinelles Biedermeier (Robert Müller: Camera obscura, 1921; in diesem österreichischen Roman gehen parallel mit sozialem Wohlstand ein Höchstmaß an Oberflächlichkeit und Egoismus einher. Intellektuelle und Querdenker - ethisierende Problemschleuderer - stehen in dieser Gesellschaft zumindest am Rand); * Manipulation der Massen mit Hilfe moderner Technik (Herbert W. Franke: Die Stahlwüste, 1962); * Leben in virtuellen Scheinwelten (Herbert W. Franke: Endzeit, 1985; in diesem Roman ist die Mobilität auf ein Minimum reduziert und durch den Kommunikator - diese Maschine ermöglicht virtuelle Reisen, Abenteuer, Sport sowie Meditation - ersetzt).

Das Christentum hat solchen Entwicklungen - um mit Paul M. Zulehner zu sprechen - unverbrauchte Hoffnungsressourcen gegenüber zu stellen. Aus der Botschaft Christi und auf Basis der christlichen Soziallehre lassen sich klare Aufträge ableiten, etwa: * Gerechtigkeit schafft Frieden; * Bewahrung der Schöpfung; * Solidarität und Verantwortung in einer globalisierten Wirtschaft gerade für jene, die durch diese Dynamik gesellschaftlich an den Rand gedrängt werden; n die Ermöglichung der gesellschaftlichen Interaktion durch Aufbau neuer Solidarnetze gegen Einsamkeit und Entfremdung; * die Befähigung zur Teilnahme an neuen Formen der Kommunikation zum Abbau von Informationsbarrieren und Vereinsamung; * Solidarität zwischen den Generationen auf Basis des Prinzips der Nachhaltigkeit; * Integration der "Fremden" in Österreich auf Grundlage der vertrauensbildenden und Missverständnisse überwindenden Dialogs; * mit den Fernsten - Entwicklungspartnerschaft als moralische Verpflichtung; Aus Lethargie reißen Utopien wie jene von Friedrich Heer reflektieren immer die Lebenssituation, das zeitgenössische Denken und menschliche Erfahrungen. Sie können unter den sozialen und politischen Eindrücken der Gegenwart ideale Zustände skizzieren, an denen sich die Gegenwart orientieren sollte, oder in der Form der negativen Utopie das Bild einer bedrohlichen Zukunft an die Wand malen. In allen Fällen sollen die hypothetischen Szenarien zum Denken motivieren. So war es sicher auch die Intention Heers, Christen aus lethargischer Bequemlichkeit zu reißen und angesichts gewisser Entwicklungen zu sensibilisieren.

Wie auch immer die technische und naturwissenschaftliche Entwicklung der nächsten Jahrzehnte aussehen mag: Entscheidend für das Ziel einer möglichst menschenwürdigen Zukunft ist das politische und gesellschaftliche Engagement des Christen, auch wenn es unbequem ist: In diesem Sinn ist Heers eindringlicher Appell an die Christen zur Aktivität aktueller denn je.

Der Autor ist Historiker in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek und Mitbegründer der "Initiative Christdemokratie" in der ÖVP.

Tipp: Ausstellung in Wien Die vom Autor dieses Beitrags gestaltete Ausstellung "Zukunftsbilder. Utopische Visionen in Literatur und Film" ist bis August 2001 im Wiener Rathaus, Stiege 4 (Eingang Felderstraße), 1. Stock, zu besichtigen.

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