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Lutherforschung

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Luther. Die deutsche Tragödie 1521. Von Karl August Meissinger. Sammlung Dalp, Band 35. S. Francke Verlag, Bern 1953. 192 Seiten. Preis 6.80 sfr.

Der 1950 verstorbene Dichter und Gelehrte K. A. Meissinger hinterließ sein wissenschaftliches Hauptwerk, eine Luther-Biographie, unvollendet. Es sollte drei Bände umfassen: Der katholische Luther, der reformatorische Luther und der lutherische Luther. Sein besonderes Interesse galt dem vorreformatorischen Luther. Seitdem der Reformationsforscher J. Ficker den jungen Mann zur Mitarbeit herangezogen hatte, war Meissinger auf die Erhellung der Hintergründe und Voraussetzungen festgelegt, aus denen Luther emporwuchs, ja er erblickte in deren sachlicher Durchforschung die entscheidende Vorarbeit für die Heilung des unheilvollen Risses in spätkünftiger Zeit.

Aus dem Nachlaß konnte 1952 „Der katholische Luther" veröffentlicht werden, der bis 1518 reicht. Daneben fand sich eine bis 1521 führende großlinige Darstellung, um 1940 entstanden, in den ersten Kapiteln überarbeitet, die nunmehr in der Sammlung Dalp vorliegt. Obwohl diese Fassung der letzten Hand entbehrt und auf den wissenschaftlichen Apparat verzichtet, darf sie den

Anspruch erheben, in der überreichen Luther- Literatur einen eigenen Platz einzunehmen.

Der Verfasser kommt vom Anfang, von den Quellen des spätmittelalterlichen Lebens in allen seinen Ausformungen her, hält mit Luthers Entwicklung von unten herauf Schritt, blickt unbefangen nach allen Seiten und spricht seine Erkenntnisse frei und formvollendet aus. Seine Art gemahnt manchmal an die Jakob Burckhardts.

Er führt seine Untersuchung von der Grundlegung („Die Welt will neu werden") über den „katholischen Luther" — wissenschaftlich das Herzstück des Buches — zum Kapitel „Die Tat" und schließt mit dem tragischen Ausklang „Deutschland versäumt seine Stunde".

Seine Mahnung zur Erforschung der Spätscholastik berührt sich mit dem Anliegen katholischer Reformationshistoriker nach Klarstellung vieler Fragen der vortridentinischen Theologie. Aehnliches gilt von Luthers Verhältnis zur deutschen Mystik. Auch nach dem Bruch besteht zu Recht: „Der wirkliche Luther ist und bleibt erstaunlich .katholisch'" (S. 108). Das Buch gipfelt in der Auffassung, daß Luther nach der Höhe, von Worms durch seinen Aufenthalt auf der Wartburg drei Fehlzündungen ausgelöst habe, die Revolution der Reichsritterschaft, den Bauern krieg und weiter das Reich der himmlischen Propheten zu Münster. Der einzige Ausweg wäre eine Appellation an die drei Stände gemeiner deutscher Nation gewesen (S. 182), deren Zusammentreten das erste und mächtigste Unterhaus der europäischen Geschichte gewesen wäre.

Nicht alle Auffassungen und Akzentsetzungen dieses Buches werden die Reformationshistoriker teilen. Es sei dahingestellt, ob die Meinung zutrifft: „Mit der katholischen Kirche von heute würde der Luther von 1519 vermutlich in Frieden gelebt haben" (S. 117). Aber Einmütigkeit wird über die bei der Erörterung des Bruches erhobene Forderung herrschen, daß Gerechtigkeit die genaueste Erwägung des geschichtlichen Herganges erheische. Jeder Richter verfahre so.

Das Buch wird nicht nur die heute in Fluß gekommenen Gespräche über den’ Zaun befruchten, sondern es ruft mit seinem Grundanliegen der Wahrheitsfindung ganz allgemein die kritische

Geschichtsforschung zu ihrem Beitrag zugunsten der Einigung auf.

Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums. Studien zum Selbstverständnis des lutherischen Protestantismus von Luthers Tod bis zum Beginn der Goethe-Zeit. Von Ernst Walter Z e e d e n. I. Darstellung. Verlag Herder, Freiburg. XI und 389 Seiten. Preis 17.50 DM.

Die Habilitationsschrift des Freiburger Dozenten darf über ihren nächsten Zweck, Selbstbegreifung des deutschen Luthertums, hinaus als Gang durch die Geistesgeschichte Deutschlands angesprochen werden. Deutlicher als in deq Haupt- und Staatsaktionen, in den Kriegen und Konfessionskämpfen, in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte spiegelt die Haltung der Lutheraner Luther gegenüber die Wandlungen im deutschen Raum mit ihrem Auf und Ab, mit dem Gefälle und den Veränderungen wieder.

Erblickt die Epoche der Glaubenskämpfe und der Orthodoxie (zirka 1550 bis 1700) in Luther einen Gegenstand der dogmatischen Theologie und der konfessionslosen Kontroverse, so bemächtigt sich um 1700 der Pietismus der Gestalt Luthers und macht sie, unter gleichzeitiger Einwirkung der Philosophie, zum Streitobjekt der innerkonfessionellen evangelischen Auseinandersetzungen. Es beginnen die Verflüchtigung der Lehre und die Auflösung der Orthodoxie. Seckendorf, Leibniz, Spener und Arnold sind die Wortführer dieser Entwicklung. Das 18. Jahrhundert sieht eine Spaltung in Orthodoxie und Aufklärungstheologie, die über Walch (sogenannte Ueber- gangstheologie) zu Semler (kritische Theologie der Aufklärung) fortschreitet, bei dem sich persönliche Frömmigkeit und historisches Urteil unabhängig von Dogma und Lehre erklären, bis sich mit Lessing die Offenbarungstheologie in Religionsphilosophie unter Ablösung der Religion von den christlichen Glaubensvorstellungen verwandelt. Gleichzeitig beleuchten die Gedanken eines Friedrich des Großen und Mösers das historisch-politische Blickfeld.

Eine neue geistige Epoche wird mit Herder und Hamann eingeleitet. Sieht Herder die Reformation als einen Typus der Revolution, die Freiheit als das Prinzip der Reformation, die Reformation als „Hebamme der Humanität" und die Bedeutung Luthers und des Protestantismus in der Formung einer nationalen Religion, so setzt mit Hamann eine christliche Rückwendung zu Luther ein, die unter scharfer Kritik seiner Zeit einhergeht. ■»

Als Ergebnis und Folgerungen verzeichnet der Verfasser die Synthese von Protestantismus und Säkularismns durch Sublimierung des lutherischen Protestes zum religiösen Individualismus, die Doppelpolarität des Protestantismus, das Problem einer Säkularisierung des protestantischen Gewissensprinzips, die Spaltung des Protestantismus in einen christlich-gläubigen und einen ungläubigen Teil, endlich die Bildung einer total verwandelten religiösen Gesamtsituation.

Der Dokumentenband zu diesem Buch ist 1952 erschienen. Der Verfasser hofft, mit einer Darstellung über die deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts und die Reformation fortsetzen zu können. Er hat bereits jetzt eine unerläßliche Vorarbeit für das Verständnis der geistigen Waffengänge des 19. Jahrhunderts geleistet. Scharfer Blick, kritisches Urteil, Noblesse in der Behandlung der Fragen, die doch auch weithin Herzenssache vieler Menschen sind, und eine biegsame Sprache zeichnen den Band aus, dessen Lektüre die Spannungen der Probleme auf den Leser überträgt. Die Seite 192, 5. Zeile von unten, verhobene Zeile, möge bei einer Neuauflage berichtigt werden.

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