Märtyrer der Kunst

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Ein Aktionskünstler, der wie ein einfacher Staatsbürger behandelt wird, wird nicht zensuriert, er ist nur in die Hände von Ungläubigen gefallen.

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Ein Aktionskünstler, der wie ein einfacher Staatsbürger behandelt wird, wird nicht zensuriert, er ist nur in die Hände von Ungläubigen gefallen.

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Was bedeutet dies nun für die Verantwortung der Kunst? Je nach dem. In seinem Buch "Furcht und Zittern" hatte Kierkegaard am Beispiel Abrahams gezeigt, daß dessen Absicht, Isaak zu opfern, nur aus der inneren Perspektive des Glaubens eine Suspension vom Ethischen darstellt; aus der äußeren Perspektive der Vernunft ist es nur ein beabsichtigter Sohnesmord. Im Zustand des Glaubens ist Abraham von diesem Verbrechen freizusprechen; im Zustand der Vernunft ist er ein potentieller Mörder, der zur Verantwortung gezogen werden muß.

Genauso der Aktionskünstler. Im Zustand der ästhetischen Gnade erscheint er dem Kunstfreund als unantastbarer Heiliger, der aller irdischen Gerichtsbarkeit entzogen ist; dem ästhetischen Heiden allerdings ist er nichts als ein Mensch, der gegen die Gebote der guten Sitten, des Anstandes, der Moral und des Strafgesetzes verstoßen hat. Er will den Künstler zu jener Verantwortung ziehen, der auch jeder Nichtkünstler beim Verrichten derselben Tätigkeit unterläge.

Wer in solch einer Auseinandersetzung gewinnt, ist eine Frage des Kräfteverhältnisses. Solange die ästhetische Kirche stark ist, trägt der Künstler keine Verantwortung; im Zustand ihrer Schwäche aber ist es besser, riskante Aktionen und dreiste Readymades zu unterlassen. Tut er dies nicht, wird er zum Märtyrer.

Diese quasi christologische Struktur moderner Kunst erlaubt es übrigens auch nicht mehr, in schlichten Oppositionen wie Freiheit versus Zensur zu denken. Denn ein Aktionskünstler, der wie ein einfacher Staatsbürger behandelt wird, wird nicht zensuriert, sondern er ist einfach in die Hände von Ungläubigen gefallen. Das Problem dabei ist, daß es, weil über Kunst heute ein Glaubensakt entscheidet, auch keine vernünftigen Argumente für oder gegen ein Kunstwerk geben kann. Ungläubige können nicht überzeugt, sie müssen bekehrt werden.

Und diese Mission ist die Aufgabe von Kunstvermittlung und Kunsttheorie heute. Deren Vertreter sind die Priester, die die große Wandlung wortreich vollziehen. Zu den Dogmen dieser Missionare gehört übrigens auch die Vorstellung, daß mit der Freiheit der Kunst eine Pflicht zu ihrer Akzeptanz verkündet wurde. Das ist ein Irrtum. Die Ablehnung eines Kunstwerkes, auch und gerade im öffentlichen Raum, ist so gesehen kein Ausdruck einer Verhinderung, sondern Ausdruck des Rechts auf einen subjektiven Geschmack, der sich kollektiv artikuliert.

Tatsächlich ist der Kampf um Kunst im öffentlichen Raum aber ein demokratiepolitisches Paradoxon. Denn zweifellos kann die Entscheidung, ob etwas Kunst ist oder nicht, nicht durch eine Abstimmung herbeigeführt werden - so wenig, wie man darüber abstimmen lassen kann, ob Gott existiert oder nicht. Das aber bedeutet umgekehrt, daß Gläubige, die sich Experten nennen, den Ungläubigen Werke vor die Nase setzen, die diese nun einmal nicht anbeten wollen. Was in der real existierenden Kirche einen basisdemokratischen Sturm der Entrüstung auslösen würde, funktioniert in der Kunstkirche auf das Beste: Dort, und nach dem Bankrott des Marxismus nur noch dort, gilt die Orthodoxie als Inkarnation des Fortschritts.

Der Nimbus des modernen Künstlers ist so eng an die Sakralisierung seines Werkes gebunden. Von dessen Aura, die, ganz im Gegensatz zur These Walter Benjamins, von modernen Reproduktionstechnologien und Medien nicht zerstört, sondern intensiviert wurde, zehrt er auch und gerade in seiner profanen Existenz. Seit der Genie-Ästhetik des späten 18. Jahrhunderts sieht sich der Künstler gerne als Warner und Seher, als Kritiker und Schamane, als Kämpfer und personifizierte Sensibilität.

Was lange als Attitüde gelten konnte, die man um des Werks willen so manchen verzieh, wird in der avantgardistischen Moderne allerdings programmatisch. In dem Maße, in dem die Grenze zwischen Leben und Werk fallen soll, wandert die Aura vom Werk zum Künstler. Er selbst ist nun die entscheidende Instanz, um die sich die Glaubenden versammeln und an der sich die Ungläubigen reiben. Deshalb muß heute jede Kunstdebatte personalisiert geführt werden - denn Person und Werk sind dann nicht mehr zu trennen, wenn die Person zum Werk geworden ist.

Nicht zuletzt diese Engführung vollzog der Aktionismus, der eben keine theatralische Handlung darstellt, bei der zwischen dem Akteur als Person und einem Dargestellten unterschieden werden könnte. Die Aktionisten 1968 im Hörsaal I spielten keine Scheißer, sondern sie waren Scheißer. Die Avantgarde wollte und will, und das macht ihr Pathos aus, den ontologischen Status von Kunst revolutionieren: aus Schein sollte ein Sein werden, das aber wie Schein beurteilt werden will. Gegen die Simulation wird eine Wirklichkeit gesetzt, die sich die Aura der Simulation verleiht. Der Künstler möchte aufhören, der Narr zu sein, und er vergißt, daß seine Privilegien und seine Freiheit an den Status des Narren, an den Status des "Als ob", an die Welt des Scheins gebunden sind. Verläßt er diese, verliert er jene.

Zu den Rätseln dieser Logik gehört übrigens auch die moralische Autorität, die Künstler heute gerne genießen. Rätselhaft ist dies, weil die Kunst ja gerade auf ihr Recht der Suspension des Ethischen insistieren muß. Seit Nietzsche weiß man, daß die moderne Kunst nicht zuletzt deshalb modern ist, weil sie amoralisch ist. Daß mancher Künstler sich selbst nun gerne zum besseren Menschen verklärt, der Autorität beansprucht und in allerlei sozialen und politischen Fragen seine warnende, anklagende oder strafende Stimme erhebt, ist so wohl nur aus der Angst vor ästhetischer Impotenz erklärbar. Für die Anteilnahme am Gemeinwesen kommen dem Künstler die gleichen Rechte und Pflichten zu wie jedem anderen auch. Kunst legitimiert zu nichts als zu Kunst - mit einer Ausnahme: wenn das Leben zum Kunstwerk wird.

Die ästhetische Existenz aber, auch dies wußte Kierkegaard, ist aber der Gegenentwurf zu einer ethischen Existenz. Gerade wenn der Künstler sich auf das Ethische einläßt, muß er aufhören, Künstler zu sein; beharrt er hingegen auf der Kunst, kann er nicht moralisch argumentieren. Ethik und Ästhetik zu verwechseln, gehört jedoch zu den beliebtesten Strategien eines erpresserischen Kunstdiskurses: In der Regel wird man dazu gedrängt, einen Künstler aus moralisch-politischen Gründen zu verteidigen, dessen ästhetische Insuffizienz jederzeit unter der Hand zugegeben wird.

Die Verankerung der Freiheit der Kunst in der Verfassung stellt so eine rechtliche Pikanterie dar, denn sie setzt das Wissen darum, was Kunst ist, voraus, während Kunst heute darin besteht, das Wissen darum, was Kunst ist, außer Kraft zu setzen. Kunst unterminiert also die Voraussetzung, die ihre verfassungsrechtliche Freiheit garantiert. Sie kann diese Freiheit nur einklagen, wenn sie sich verrät, und die Verfassung kann nur solche Kunst schützen, die im avancierten Sinn aufgehört hat, Kunst zu sein.

Solche Paradoxien sind nicht auflösbar, sie machen den Witz der Sache aus. Die Kunst trägt keine Verantwortung. Die Verantwortung des Künstlers beginnt erst jenseits der Kunst. Erklärt er dieses Jenseits allerdings zur Kunst, beginnt seine Verantwortung diesseits der Kunst. Das kann, manchmal, ziemlich kompliziert sein. Manchmal ist es allerdings auch ganz einfach.

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