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Mahnung an den Westen

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In eben dem Moment, in dem der Westen »ich, in all seiner Zersplitterung, dem Osten zu einer Begegnung stellt, erhebt das Oberhaupt der katholischen Kirche seine Stimme. Die Rede des Papstes vom 24. Dezember 1953 muß verglichen werden mit dem Appell des Papstes vom 24. Dezember 1944 — mit Betonung bezieht sich Pius XII. selbst auf jene Mahnung im letzten Kriegswinter; sie stellte die große Verantwortung eines demokratischen Neubaues der Welt durch die Siegermächte heraus. Als ein Scheinwerfer war sie gerichtet in die kommenden Jahre, voll Sorge über mögliche Fehlleistungen. Diese visiert nun der neue Appell an, mit einer Schärfe, Nüchternheit und Offenheit, die die Misere des Westens bis in den Grund hinein ersieht. Gewiß: der Heilige Vater wendet sich, wie immer an Wendepunkten der Geschichte, an die ganze Welt: diese aber faßt er ins Auge, indem er eine Grundbefindlichkeit der heutigen westlichen Hemisphäre anspricht, ihren technizi- stischen Totalitarismus, „die technische Gesinnung“, welche „die Augen der modernen Menschen blind, ihre Ohren taub gemacht hat“. „Die Kirche liebt und begünstigt den menschlichen Fortschritt. Unleugbar kommt der technische Fortschritt von Gott; darum kann und soll er zu Gott führen.“

Mit dieser Erklärung widerlegt Pius XII. von vornherein alle jene Einwände der halbgebildeten Dunkelmänner unserer Zeit, der technizistischen Manager und „Volksaufklärer“, die der Kirche die Verdammung des technischen Fortschrittes zuschreiben. Ihnen gegenüber wagt der Papst eine unseres Wissens bisher noth nie gewagte theologische Aussage, die von allen Denkern, Theologen und Historikern im besonderen, von allen Zeitgenossen im allgemeinen höchste Beachtung erfordert: durch den „rechtmäßigen Gebrauch“ der Werke der Technik, die heute eine „nie dagewesene Höhe der Beherrschung der materiellen Welt“ erreicht hat, hat der Mensch den Schöpferbefehl erfüllt, der Genesis 1, 28 vermeldet wurde: „Bevölkert die Erde und macht sie euch untertan." … „Welch langer und schwerer Weg von damals bis heute, wo die Menschen gewissermaßen sagen können, den göttlichen Befehl ausgeführt zu haben!“

Diese Aussage bildet die Krönung jener päpstlichen Begrüßungen des wissenschaftlichen und zivilisatorischen Fortschrittes, die Leo XIII. eingeleitet hatte mit seiner berühmten Begrüßung des kommenden, des 20. Jahrhunderts, im Jahresausklang von 1899. Diese unüberbietbare Bekundung eines katholischen, eminent katholischen Optimismus in den möglichen guten Sinn aller menschlichen Werke verpflichtet nun aber, mit tiefem Mißtrauen, ja Erschrecken auf die „schwere geistige Gefahr" zu sehen, die im technizistischen Totalitarismus liegt. Diese „technische Gesinnung“ engt der. Blick des Menschen ein auf die Materie, von der allein letzte Erfüllung und 'Sinngebung des Lebens erhofft wird! Sie macht blind für religiöse Wahrheiten. „Der Geist, der sich verführen läßt von der technischen Lebensauffassung, bleibt unempfindlich, nicht angesprochen und schließlich blind gegenüber den Werken Gottes, die wie die Geheimnisse des christlichen Glaubens ihrer Natur nach von der Technik ganz verschieden sind.“

Diese technische Gesinnung gaukelt dem Menschen „ein blendendes Panorama“ vor und „nimmt dem Menschen den kritischen Sinn für die eigenartige Unruhe und Oberflächlichkeit unserer Zeit“. „Die von der technischen Gesinnung durchsetzten Menschen finden nur schwer noch jene Ruhe, Klarheit und Innerlichkeit, die Vorbedingung sind, wenn man den Weg zum menschgewordenen Gottessohn finden soll. Sie werden soweit kommen, den Schöpfer und sein Werk schlecht zu machen, indem sie die Menschennatur als Fehlkonstruktion bezeichnen, wenn die notwendig begrenzte Leistungsfähigkeit des Gehirns und der anderen menschlichen Organe die Verwirklichung technologischer Berechnungen und Pläne verhindert.“

Diese Worte des Papstes richten sich offen gegen jene berühmten Erklärungen amerikanischer Luftwaffenversuchsinstitute (über die unter anderem der Schweizer Robert Jungk in seinem Reisebericht „Die Zukunft hat schon begonnen“ berichtet), denen zufolge der Mensch eine „Fehlkonstruktion“ sei, die mühsam mit Zusatzgeräten eingenietet werden müsse in die Ueberschallmaschinen …

Der dem technizistischen Totalitarismus verfallene Mensch wird, so führt Pius XII. des weiteren aus, unfähig zu einer tieferen geistigen und religiösen Erziehung, voll Hast und Unruhe treibt er Raubbau mit seiner persönlichen Substanz, zerstört so sich selbst und seine Umwelt. An die Stelle des Gott gewidmeten Sonn- und Feiertages setzt er ein Opiat, seine „Freizeit“, in der er nur seine Arbeit und seine Genüsse verlagert, und zerstört die Familie, „die nicht mehr ein Werk der Liebe und eine Zuflucht der Herzen, sondern je nach den Umständen eine trostlose Sammelstelle von Arbeitskräften für jene Erzeugung oder von Verbrauchern der erzeugten materiellen Güter“ wird.

Es kann kein Zweifel darüber bestehen: hat Pius XII. oft und immer wieder in den letzten Jahren den „atheistischen Materialismus“ des Ostens verurteilt: hier und in dieser Stunde wendet sich die Wucht seiner Enthüllungen gegen den Materialismus des Westens. In ihm sieht er eine besondere Bedrohung für Europa, wobei er aber betont, daß gerade andere Kontinente und unentwickelte Völker besonders stark von den Verführungen der „technischen Lebensanschauung“ bedroht sind.

Die Worte des Papstes an Europa enthalten eine vierfache Mahnung: an „Straßburg“, an die Wirtschaftsgläubigen, an Frankreich, an alle christlichen Staatsmänner Europas. Pius XII. spricht „von den unaufhörlichen Enttäuschungen, in denen nun schon seit Jahren der sehnliche Wunsch seiner (das heißt hier Europas) Volker nach Frieden und Entspannung gerade duch die materialistische Ausrichtung der Friedensfrage Schiffbruch leidet. Wir denken besonders an die, für die der Friede eine Frage der Technik ist, und die das Leben der einzelnen wie der Nationen nur unter technisch-wirtschaftlicher Rücksicht betrachten. Diese materialistische Lebensauffassung droht zur Richtschnur geschäftiger Friedensmacher und das Rezept ihrer Friedenspolitik zu werden“. Der Papst erinnert in diesem Zusammenhang direkt an das alte Schlagwort des Manchesterliberalismus „Durch Freihandel zum ewigen Frieden“. An Frankreich wendet sich der Papst mit einem doppelten Hinweis: der christliche Politiker soll sich nicht „in einen charismatischen Verfechter einer neuen sozialen Welt“ verwandeln (damit wird der französische Sozialutopismus und Schwärmergeist angesagt, der soeben in der Bewegung der „Jeunesse de l’Eglise“ um Montuclard verurteilt wurde, aber starke Faszination auf führende Politiker ausübt), sondern soll das real Mögliche anstreben. Zum anderen: „Für Europa gibt es keine Sicherheit ohne Wagnis. Wer unbedingte Sicherheit (,Securite') verlangt, beweist nicht den guten Willen zu Europa.“ Die Einigung der Völker Europas ist ein Wagnis, „ein notwendiges Wagnis“. „Ein Wagnis, aber nicht hinaus über die heutigen Möglichkeiten; ein vernünftiges Wagnis“.

Diesen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassenden Erklärungen fügt Pius XII. noch einen Appell 'an die verantwortlichen christlichen Politiker Europas an, d i e ehr is tliche Soziallehre endlich in die Tat überzuführen, damit nicht die innere Unordnung das notwendige Werk der äußeren Zusammenführung in die Union der europäischen Völker gefährde.

Im Schlußwort bekennt sich der Heilige Vater als Sprecher und Anwalt aller „Kleinen,

Armen, Unterdrückten“ und der um „ihrer Treue zu Christus und seiner Kirche willen Verfolgten“ und aller jener, die „noch an offenen Gräbern stehen und bereits neue Gräber fürchten“, mit ihnen „aller derer, die um ihre Freiheit fürchten müssen“ …

Als letzter Anwalt des Menschen, und deshalb letzter Ankläger des Unmenschlichen, hat also Rom am Vorabend der Berliner Konferenz gesprochen. Diese kann nicht ernster genommen werden als in diesem Anruf an Europa, sich zu vereinigen, um ein ernstgenommenes Gewicht in die Waagschale weltumfassender Absprachen zu legen.

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