Fatima-Madonna - Fatima-Madonna bei einer Veranstaltung des Rosenkranz-Sühnekreuzzugs in der Wiener Stadthalle - © Kathbild/Franz Josef Rupprecht

Marienerscheinung: Ein Symbol für die Sehnsucht nach greifbarer Transzendenz

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Maria "erscheint" in ungeahnter Zahl. Eine Auseinandersetzung dazu ist überfällig. Wolfgang Grünstäudl darüber, warum Maria gar so oft erscheint und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede dabei beobachtbar sind.

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Maria "erscheint" in ungeahnter Zahl. Eine Auseinandersetzung dazu ist überfällig. Wolfgang Grünstäudl darüber, warum Maria gar so oft erscheint und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede dabei beobachtbar sind.

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„Warum erscheint Maria so oft?" titelt ein Büchlein des Pallotinerpaters und Psychotherapeuten Jörg Müller. Die Frage ist berechtigt, denn die Berichte von Marienerscheinungen haben am Übergang zum 21. Jahrhundert eine unüberschaubare Anzahl und Vielfalt erreicht. Müller beantwortet sie mit einem Hinweis auf den "Zerfall der Moral", angesichts dessen "der Himmel die Menschheit zum Umdenken" aufrufe, um katastrophale Konsequenzen zu verhindern. Maria als apokalyptische Vorreiterin, die warnt, ehe es zu spät ist?

Als solche tritt sie jedenfalls an fast allen Erscheinungsorten der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart auf, wobei die warnende Höllenvision von Fatima einen besonderen Höhepunkt bildet. Jörg Müllers Erklärung entspricht also durchaus der inneren Logik der diversen Erscheinungen und Botschaften Marias, doch kann man seine Frage auch anders zu beantworten suchen.

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Fahndet man etwa nach Strukturähnlichkeiten, typischen Eigenschaften und Inhalten von Marienerscheinungen und verbindet die Suchergebnisse mit ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und historischen Kontext, so fällt ein neues Licht auf viele Bereiche dieses komplexen Phänomens, die bei einem apokalyptischen Kurzschluss im Dunkeln bleiben.

Ein komplexes System

Vor allem die Frage nach der Funktion der Erscheinungen für die Gesellschaft, die Seher(innen) und die Gesamtkirche ist ebenso selten gestellt wie erhellend. Der auf den ersten Blick paradoxe Umstand, dass der enorme Anstieg an Marienerscheinungen ab Beginn des 19. Jahrhunderts gerade im sich säkularisierenden Frankreich seinen Ausgang nahm, wird in dieser Perspektive ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des Phänomens.

Angesichts der wachsenden Deutungsmacht der aufgeklärten Vernunft nahm die in die Defensive geratene Kirche Zuflucht zu scheinbar direkten Zugängen zur Transzendenz. Nicht so sehr der Inhalt der jeweils ergehenden Botschaften ist dabei entscheidend, sondern dass eine Botschaft ergeht - "The medium is the message!"

Die Seher(innen) wiederum müssen nicht selten einen frühen Tod der Mutter verschmerzen - so zum Beispiel Catherine Labouré in Paris, Maximin Giraud in La Salette und Ivanka Ivankovic in Medjugorje -, was zumindest vermuten lässt, dass die erscheinende Muttergottes als Ersatzmutter und Trostspenderin fungiert.

Im Hinblick auf die religiöse Geografie wies der Historiker David Blackbourn nach, dass Marienerscheinungen meist an der Peripherie angesiedelt sind und den Ort, den sie betreffen, in ein neues Zentrum verwandeln. Lourdes war etwa zu Beginn der Erscheinungen von einer Reihe bedeutenderer Wallfahrtsorte umgeben, deren Gründungsgeschichten zum Teil frappant den Ereignissen in Lourdes ähneln und die heute vergessen sind.

Stabilisierendes Papstamt und Polarisierendes Thema

Für die kirchliche Hierarchie und insbesondere für das Papstamt hatten und haben Marienerscheinungen eine stabilisierende Funktion, da zum einen beinahe an allen Erscheinungsorten zur Treue zum Papst aufgerufen wird bzw. nur jene Orte überregionale Bedeutung erlangen, die von Rom anerkannt oder aktiv gebilligt werden.

Auch konnten die Erscheinungen in Paris als Ankündigung und die Geschehnisse in Lourdes als himmlische Billigung des Immaculata-Dogmas gedeutet werden. Besonders ausgeprägt und auch medial thematisiert wurde diese gegenseitige Bestätigung in der Beziehung Johannes Paul II. zu Fatima. Darüber hinaus meint David Blackbourn, der Vatikan habe die Organisation und den Umgang mit Massenevents anhand der Pilgerströme von Lourdes gelernt.

Zum anderen liegt es sicherlich auch an der ausgeprägten Polarisierung der Thematik, die kaum Raum lässt für eine kritische Annäherung jenseits uneingeschränkt positiver Aufnahme und radikaler Verdammung.

Im Vergleich zur päpstlichen Wertschätzung und der Attraktivität von Marienerscheinungsorten als Wallfahrtsziel nimmt sich das Interesse der akademischen Theologie an Marienerscheinungen eher bescheiden aus. Das kann vor allem im Hinblick auf die Praktische Theologie überraschen, hat man sich hier doch in letzter Zeit einer verstärkten Wahrnehmung tatsächlich gelebter Religiosität verschrieben. Im Zuge dieser empirischen Wende bleiben aber die Pilgerbewegungen (20-25 Mill. jährlich in Guadalupe; 8-10 Mill. in Lourdes; ca. 1 Mill. in Medjugorje), medialen Präsenzen (v.a. im Internet) und kirchenpolitischen Einflüsse von Fatima, Medjugorje & Co großteils unberücksichtigt.

Woran liegt das? Zum einen wohl am weit verbreiteten Eindruck, mit der berühmten und mehrmals lehramtlich rezipierten Formulierung Kardinal Lambertinis, des späteren Benedikt XIV., sei im Grunde alles Notwendige zur Nicht-Notwendigkeit der rezenten Phänomene gesagt. Lambertini hält in seinem Werk über die Heiligsprechung fest, dass sich "jemand unbeschadet seines vollen … katholischen Glaubens" auch von kirchlich anerkannten Visionen und Privatoffenbarungen "distanzieren kann, sofern dies mit der nötigen Zurückhaltung, nicht grundlos und ohne Geringachtung geschieht". Zum anderen liegt es sicherlich auch an der ausgeprägten Polarisierung der Thematik, die kaum Raum lässt für eine kritische Annäherung jenseits uneingeschränkt positiver Aufnahme und radikaler Verdammung.

Differenzierte Diskussion

Diese Frontstellung zu überwinden und eine differenzierte Diskussion zur Thematik zu führen, scheint im Hinblick auf die Situation der Kirche in Österreich eine wichtige Aufgabe zu sein. Mit der Mobilisierungsfähigkeit des durch Fatima inspirierten Rosenkranzsühnekreuzzugs der Nachkriegsjahre kann sich die heutige Rezeption der Erscheinungen von Medjugorje nicht messen, doch sind einige Verbindungen zu diesem herzegowinischen Dorf bemerkenswert.

Der Wiener Pastoraltheologe Paul Michael Zulehner beobachtete in den achtziger Jahren in Medjugorje die Sammlung einer "Kleinen-Leute-Kirche", in der es auch "die einfachen Fußgänger der Kirche" gut haben, und Kardinal Schönborn stellte im Jahr 2002 fest, dass dort "offensichtlich eine intensive Missionsstation des Himmels da ist".

Somit gibt es Gründe genug, das schillernde Phänomen Marienerscheinungen nicht zu ignorieren, sondern es als Symbol für die Sehnsucht nach (allzu) greifbarer Transzendenz in der medial geprägten (Post-)Moderne zu dechiffrieren.

Der Erzbischof von Wien wird von der Homepage der "Children of Medjugorje" auch mit der Aussage zitiert, ohne die durch Medjugorje vermittelten Berufungen könne das Wiener Priesterseminar geschlossen werden. Zu fragen ist: Welche Auswirkungen hat es, wenn die wenigen Priester, die ihren Dienst antreten, zu einem immer größeren Anteil aus einer spirituellen Quelle schöpfen, die der Mehrheit der in den Pfarren aktiven Christen - sagen wir vorsichtig - reichlich fremd ist?

Auffallend ist weiters, dass viele Movimenti, die sich der kirchlichen Erneuerung (nicht nur) in Österreich verschrieben haben, durch den Bezugspunkt Medjugorje miteinander vernetzt sind. Durch zahlreiche internationale Veranstaltungen ist dieser Ort schon längst zu einer globalen Plattform für eine charismatisch geprägte, hoch aktive und prononciert konservative Spiritualität geworden, deren Präsenz vielerorts zu spüren ist.

Somit gibt es Gründe genug, das schillernde Phänomen Marienerscheinungen nicht zu ignorieren, sondern es als Symbol für die Sehnsucht nach (allzu) greifbarer Transzendenz in der medial geprägten (Post-)Moderne zu dechiffrieren. Denn, um Jörg Müllers Frage in ökonomischen Kategorien zu beantworten: Maria erscheint so oft, weil die Nachfrage so groß ist.

Der Autor ist Religionslehrer in Mistelbach/NÖ.

Buch

Die Visionen der Bernadette Soubirous und der Beginn der Wunderheilungen in Lourdes

Von Patrick Dondelinger.
Verlag Friedrich Pustet,
Regensburg 2003. 261 Seiten m. Abb. € 25,60

Buch

Marienerscheinungen. Schein und Sein aus theologischer und psychologischer Sicht

Dargestellt am Beispiel der Privatoffenbarungen in Medjugorje,
Von Ivan Zeljko.
Verlag Dr. Kovac,
Hamburg 2004.456 Seiten, kt.

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