Eines haben fast alle Terroristen, die in den letzten Jahren Anschläge im Namen des Islams verübt haben, gemeinsam: Sie sind, wie der Extremismusforscher Peter Neumann sie nennt, religiöse Analphabeten. Sie sind nicht religiös sozialisiert worden, besuchten keine Moscheen, hatten kaum Zugang zur Spiritualität, zum Gebet, zum Koran, sie kennen die islamische Lehre kaum. Auf dem Wege der Radikalisierung schließen sie sich eventuell radikalen Moscheegemeinden bzw. Organisationen an. Bei diesen Extremisten handelt es sich also in der Regel nicht um typisch praktizierende Muslime, die ihre Gebete verrichten, im Ramadan fasten und sich bemühen, sich an Gebote ihrer Religion zu halten, auch nicht um die typischen Moscheebesucher. Die Religion wird bei ihnen in der Regel erst im Zuge der Radikalisierung entdeckt, einige sind sogar keine Muslime.
Eine gesunde Bindung an seine Religion bzw. eine gesunde religiöse Sozialisation scheint offensichtlich vor Radikalisierung zu schützen. Die absolute Mehrheit der Muslime sieht diese Terrorakte im Namen ihrer Religion als mehr als nur befremdend an. Terror ist also kein Bestandteil des religiösen Bewusstseins der muslimischen Gemeinschaft, im Gegenteil, er wird als Fremdkörper abgelehnt. Anfällig für Radikalisierung scheinen gerade diejenigen zu sein, die sich am Rande der Gemeinschaft bewegen und nicht in ihrer Mitte.
Eine religiöse Sozialisation, die dem Gläubigen Orientierung gibt, ihm einen Zugang zu dem liebenden, barmherzigen Gott öffnet und ihn als Werkzeug dieser göttlichen Liebe und Barmherzigkeit verortet, gibt Halt und hilft, in Harmonie mit sich und der Gesellschaft zu leben. Religiosität ist daher eine wichtige Ressource zur Bereicherung des Individuums, aber auch seiner Gesellschaft. Nicht weniger, sondern mehr Religion würde heute den Extremismus zurückweisen.
Der Autor leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Uni Münster
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