Missbrauch - © iStock / VikaValter

"Mein Fall" von Josef Haslinger: Weite Wege vom Missbrauch zur Katharsis

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Der Schriftsteller Josef Haslinger stellt im Buch „Mein Fall“ seine Missbrauchscausa im Stift Zwettl dar, Theologe Wolfgang Treitler fiktionalisiert Nämliches rund ums Benediktinerstift Seitenstetten.

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Der Schriftsteller Josef Haslinger stellt im Buch „Mein Fall“ seine Missbrauchscausa im Stift Zwettl dar, Theologe Wolfgang Treitler fiktionalisiert Nämliches rund ums Benediktinerstift Seitenstetten.

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Am 28. Jänner jährt sich die Aufdeckung der Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg zum zehnten Mal. Die vom deutschen Jesuiten Klaus Mertes angestoßene Öffentlichmachung einer Unzahl von Causen hatte ihre Entsprechung auch in Österreich, eine große Zahl, nicht zuletzt in Internaten von Ordenseinrichtungen kam ans Licht.

Zu Ostern sind es auch zehn Jahre, dass Kardinal Christoph Schönborn in einer denkwürdigen Initiative Waltraud Klasnic, die frühere „Frau Landeshauptmann“ der Steiermark, mit der Gründung der Unabhängigen Opferschutz-Anwaltschaft und der Unabhängigen Opferschutz-Kommission beauftragt hat, die aus nichtkirchlichen Prominenten und Fachleuten besteht, und die sich als möglichst unbürokratische Anlauf- und Unterstützungsstelle für Opfer kirchlichen Missbrauchs versteht.

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Eines der Opfer der Missbrauchs-Umtriebe, der Schriftsteller Josef Haslinger, hat nun im Buch „Mein Fall“ seine Causa und seine Erfahrung mit dem kirchlichen Umgang damit offengelegt und in einer Art autobiografischen Reflexion zugänglich gemacht. Eine wichtige Auseinandersetzung – und ein in mehrerer Hinsicht für sich sprechender Versuch, viele Jahre nach den Missbrauchsereignissen im Stift Zwettl, wo Josef Haslinger als Sängerknabe im Internat war, und eben zehn Jahre nach Einrichtung der Klasnic-Kommission.

Haslinger beschreibt darin, wie er im Jahr 2018 – viel später als andere Opfer – den Versuch macht, bei der Unabhängigen Opferschutz-Anwaltschaft mit seinem Anliegen vorstellig zu werden. Und er erlebt seine blauen Wunder: Zuerst nimmt er Kontakt mit dem Kommissions-Mitglied Brigitte Bierlein, damals Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs, auf – und bekommt schnell einen Termin bei ihr. Die Frau Präsidentin hört Haslinger genau zu, notiert sich zu seiner Überraschung nichts, und sagt, dass er sich direkt an die Leiterin der Kommission Waltraud Klasnic wenden soll.

Gut gemeint ist selten gut

Auch Klasnic hat schnell ein Ohr für Haslinger, auch sie hört interessiert zu, auch sie notiert sich nichts bei dem Gespräch – und verweist Haslinger dann an den Psychiater Johannes Wancata, der in der Erzdiözese Wien als Zuständiger für Missbrauchsfälle firmiert. Der Herr Primarius und Haslinger finden allerdings keinen gemeinsamen Termin, weswegen Letzterer dann einem Beauftragten der Erzdiözese Wien gegenübersitzt und ihm nochmals seine Geschichte erzählt. Dieser Mitarbeiter schreibt bei dem Gespräch endlich mit, lässt Haslinger aber am Ende wissen: „Herr Haslinger, Sie sind doch ein Schriftsteller. Sie können das ja alles viel besser formulieren, als ich das kann.“

Allein in der Beschreibung der Erlebnisse mit der Klasnic-Kommission zeigt sich, wie nüchtern und genau Haslinger als Chronist in eigener Sache verfährt – und wie gerade durch diese Form der Zugangsweise offenbar wird: Gut gemeint ist selten gut. Der Leser kann sich ausmalen, wie es anderen, nicht so sprachmächtigen Missbrauchsbetroffenen ergeht. Schon allein diese Dokumentation entlarvt, dass im Umgang mit Missbrauch längst nicht das professionelle Stadium erreicht ist, das eigentlich notwendig wäre.

Haslinger ist zugutezuhalten, dass er auch in der Schilderung des Missbrauchs und seiner Reflexionen und Gefühle dazu differenziert bleibt: Er enthält sich der Schwarzweißmalerei. Allerdings bleibt dem Leser auch bei seinem Fall der Mund offen, was sich geistliche und im Dienst des Stiftes auch weltliche Herren so alles leis­ten konnten (im Falle Haslingers u. a. ein im Stift Zwettl tätiger Zisterzienserpater, der bald wieder in sein Ursprungskloster Heiligenkreuz zurückgekehrt und 2014 verstorben ist).

Allerdings bleibt dem Leser auch bei Josef Haslingers Fall der Mund offen, was sich geistliche und im Dienst des Stiftes auch weltliche Herren so alles leisten konnten.

Gleichzeitig reflektiert Haslinger auch seine eigenen Wahrnehmungen in der Erinnerung, etwa, dass die Zuwendung des missbrauchenden Paters für ihn als Buben auch als etwas Besonderes erfahren wurde. Und dass auch ein Moment der Erfahrung der Entdeckung seiner eigenen Sexualität dabei war: Das alles ist ein extrem heikles Terrain – Haslinger hat, auch davon spricht er im Buch, sich wegen ähnlicher Reflexionen in der Vergangenheit dem Vorwurf der Verharmlosung von Missbrauch ausgesetzt. Das ist dem Buch „Mein Fall“ mitnichten vorzuwerfen, aber die nüchterne und doch betroffen machende Genauigkeit, wie Haslinger seine gegenwärtigen und vergangene Erfahrungen schildert, zwingt, dass das Thema viele Verästelungen abseits von klaren Schuldzuweisungen (und der klaren Schuld durch die Täter) aufweist.

Entgegen solcher Differenziertheit im Buch hat sich Haslinger zu seinen Causen seither viel anklagender geäußert – etwa im ZIB 2-Interview am 28. Jänner. Vielleicht liegt das daran, dass bis dahin (und bis Reda­ktionsschluss der FURCHE) keine Reaktion des Stiftes Zwettl vorlag: Man ist schon fassungslos, dass – trotz aller kirchlichen Beteuerungen – wesentliche Player immer noch nichts von der Brisanz des Themas verstanden haben und damit auch die Versuche, wie jene durch die Klasnic-Kommission, an einem menschen-, das heißt: opfergerechten Umgang mit den Missbrauchtaten zu arbeiten, konterkariert. Man versteht, dass Haslinger ob dieser Ignoranz im zitierten Inter­view auch die Klasnic-Kommission als Teil kirchlicher Vernebelungstaktik versteht.

Als Spitze eines Eisbergs

Einen anderen, semi-fiktionalen Versuch des Umgangs mit Missbrauchserfahrungen legt der Wiener Fundamentaltheologe Wolfgang Treitler im Buch „Sehr gut. Eine Novelle“ vor. Treitler war in den 1970er Jahren Schüler des Stiftsgymasiums Seitenstetten im Mostviertel, und er hat seine Erfahrungen in der lokal renommierten Bildungsanstalt des Benediktinerstiftes verklausuliert, aber gleichfalls den Leser in die Ereignisse mitnehmend formuliert.

Es geht in „Sehr gut“ sowohl um körperliche Gewalt wie um sexuellen Missbrauch durch den Peiniger, er ist Priester und heißt im Buch Louis Pigasse. Treitler beschreibt einen Schulkosmos, in den der Volksschulabgänger hineingeworfen wird, der von Hier­archien (beileibe nicht nur zwischen Professorenschaft und Schülern) geprägt ist: Die „kleinen“ werden da durch die größeren Schüler drangsaliert, auch das gehört zu den festgefügten Ritualen, die der Protagonist der Novelle durchleben muss.

Dass in diesem System von Erniedrigung und Ausbeutung auf allen Ebenen die im Wortsinn geraubte Unschuld quasi als Spitze des Eisbergs fungiert, ist aber ebenfalls keine Verniedlichung der sexuellen Übergriffigkeit, die das Buch beschreibt. Auch das alles ist schon beinahe eine Generation her – und konnte erst jetzt zu Papier gebracht werden.
Sowohl die dokumentarische Form, die Josef Haslinger gewählt hat, als auch der fiktionale Zugang von Wolfgang Treitler thematisieren das bislang Unaussprechliche. Zwei Versuche zur Katharsis: Wie es scheint, ist der Weg dahin aber noch lang.

Mein Fall - © S. Fischer
© S. Fischer
Buch

Mein Fall

Von Josef Haslinger
S. Fischer 2020
144 S., geb.,
€ 20,60

Sehr gut - © Achinoam Verlag
© Achinoam Verlag
Buch

Sehr gut

Novelle
Von Wolfgang Treitler
Achinoam 2018
195 S., TB,
€ 12,99

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