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Missbrauch in der Kirche: Schwarze Schafe halbherzig verfolgt

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Verfehlungen amerikanischer Priester beschäftigten im Vorjahr auch österreichische Medien. Nun liegt ein „Buch der Schande” zu diesem Thema vor. Hier ein gekürzter Auszug.

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Verfehlungen amerikanischer Priester beschäftigten im Vorjahr auch österreichische Medien. Nun liegt ein „Buch der Schande” zu diesem Thema vor. Hier ein gekürzter Auszug.

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In nahezu jedem Fall von Kindesmißbrauch durch einen Priester haben die Opfer und ihre Familien erfahren müssen, daß sich niemand für ihr Leid interessiert. Weder Mitglieder ihrer Gemeinde, die den leisesten Zweifel an der Tugend eines Priesters als Angriff auf ihren Glauben empfinden und sich weigern, es zu glauben. Noch Kirchenobere, die kostspielige und beschämende Gerichtsverfahren fürchten und deshalb schweigen und die Fälle verschleppen.

Genauso erging es den Familien, die es wagten, den Priester Mark Lehmann aus Phoenix, Arizona, wegen sexuellen Kindesmißbrauchs anzuzeigen. Das Strafverfahren, das im Mai 1990 eingeleitet wurde und sich über die nächsten beiden Jahre hinzog, brachte nahezu jedem, der damit befaßt war, nur Tränen und Ärger ein - von den betroffenen Familien über die Freunde, die zusehen mußten, wie sie geschmäht wurden, bis zu den Justizbeamten, die sich so sehr bemühten, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.

Vater Mark erregte Aufmerksamkeit seit dem Augenblick, als er im Juli 1988 in der Gemeinde St. Thomas eintraf. Er war gerade sechsund-_ zwanzig, wirkte wie ein gutaussehender großer Junge und zeigte jugendlichen Überschwang - einen größeren Kontrast zu den älteren, gesetzten Priestern, die es sonst in der Stadt gab, konnte man sich kaum vorstellen.

Umso entsetzter war man zirka zwei Jahre später, als langsam durchsickerte, daß sich mehrere Siebtkläßlerinnen der Klosterschule über Vater Mark beschwert hatten. Zwei von ihnen - Amy Hanson und Dawn Barton, beide dreizehn Jahre alt - hatten sich mit ihrer Beschwerde direkt an den Vertrauenslehrer der Schule gewandt. (Bei beiden Mädchen wurde der Name geändert.)

Amy gab an, daß Vater Mark sie häufig an sich drücken und gelegentlich durch die Kleidung hindurch ihre Brüste betasten würde. Dawn sagte aus, daß Vater Mark sie bei einem Ausflug mit anderen Mädchen in ein Erlebnisbad von hinten gepackt und ihre Brüste betastet hätte. Der Vertrauenslehrer sprach mit Jugendämtern und mit

den Eltern einiger anderer Mädchen, die ebenfalls an dem Ausflug ins Schwimmbad teilgenommen hatten. Ein Elternpaar schaltete die Polizei ein, die sofort zu ermitteln begann. Das katholische Bistum von Phoenix suspendierte Vater Mark daraufhin.

Doch die Kirchenleitung tat nichts, um den verstörten Gemeindemitgliedern zu helfen, mit den Vorfällen, über die zunächst nur wenig an die Öffentlichkeit gedrungen war, fertigzuwerden. Die Folge war, daß viele der Gläubigen von St. Thomas diese unerfreulichen Vorgänge als Mißverständnis oder freche Lüge abtaten. Es handelte sich durchweg um gutsituierte, konservative Katholiken, die ihr geordnetes Leben nicht durch einen Skandal gefährdet sehen wollten. Die Grünanlagen rund um die Kirche waren untadelig gepflegt, die Hecken so präzise gestutzt, daß sie aussahen wie Bildhauerarbeit. Bei der Messe warfen die Gemeindemitglieder keine Vierteldollar in den Klingelbeutel, sondern Fünf-, Zehn- und Zwanzigdollarscheine.

Kichern über die Opfer

Die Gemeindemitglieder kicherten über die Mädchen, die an dem Ausflug ins Freibad teilgenommen hatten, und meinten, daß sie den attraktiven Vater Mark gewiß provoziert hätten, indem sie vor ihm in ihren Badeanzügen herstolziert und ihm im Schwimmbecken zu nahe gekommen wären.

Siebzehn Jahre lang war Patty Kirchenmusikerin der Gemeinde gewesen. Zuerst ehrenamtlich, dann als hauptamtliche Leiterin mit Gehalt. Ihre kleine christliche Band war mit den Jahren sehr bekannt geworden und hatte ein paar Platten aufgenommen. Immer wenn ein prominenter Katholik aus dem Bezirk von Phoenix heiratete oder einen Todesfall in der Familie zu beklagen hatte, mußte Patty bei der Messe singen. Viele waren nur deshalb Mitglieder der Gemeinde St. Thomas geworden, weil sie dort regelmäßig sang.

Doch im Dezember 1989 hatte sie plötzlich gekündigt. Und jetzt, sechs Monate später, erzählte ihre älteste Tochter der Polizei irgendwelche Geschichten. Patty hatte ihre Kündigung damit begründet, daß sie mehr Zeit für ihre Familie brauchte. Aber vielleicht war sie ja auch im Zorn gegangen, mutmaßten die Gemeindemitglieder. Sie war immer so aufdringlich, so laut. Vielleicht hatte sie angefangen, Forderungen zu stellen, und war in die Luft gegangen, als man sie ihr nicht erfüllte. Als Gemeindemitgliedern das Gerücht zu Ohren kam, daß Pattys zweite Tochter, die elfjährige Maureen, ebenfalls von der Polizei über ihre Beziehung zu Vater Mark befragt wurde, erhielten die Zweifel neue Nahrung. Zwei Kinder in einer Familie? War das nicht seltsam?

Doch das schlimmste war, daß die Mädchen geächtet wurden. Freundinnen aus der Gemeinde kamen nicht mehr so oft zu Besuch - ihre Eltern hatten ihnen befohlen, die Familie Hanson zu meiden. Amy hörte sogar, wie ihre Schulleiterin hinter ihrem Bücken über sie klatschte. Patty sah sich gezwungen, ihre Kinder in eine städtische Schule zu schicken. Sie wußte, was die Kinder auszustehen hatten. Auch ihre Freundinnen riefen nicht mehr an, und sie wurde immer seltener um Auftritte in den Kirchen der Umgebung gebeten.

Der Gemeinderat hätte die Lage entschärfen können. Er hätte den Gemeindemitgliedern von St. Thomas mitteilen können, daß die Familien Hanson und Barton mit ihren Anschuldigungen nicht allein standen, daß die Polizei auch Kinder aus anderen Familien befragte und Vater Mark wahrscheinlich sehr viele Opfer gefunden hatte. Statt dessen betonte man noch, daß Vater Mark lediglich das Opfer einer Anklage wäre. In manchen Ohren klang das so, als würden die Mitglieder des Gemeinderats den Vorwürfen keinen Glauben schenken.

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