Missbrauch tangiert alle Religionen

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Neben einem offenen, ehrlichen und kritischen Dialog zwischen den Religionen bedarf es auch einer neuen Aufmerksamkeit für das Wesen von Religion.

In der öffentlichen Meinung von Ländern wie dem unseren hat sich in letzter Zeit mancherorts das schlichte Vorurteil verfestigt, monotheistische Religion begünstige in allen drei großen Ausprägungen, nämlich Judentum, Christentum und Islam, Aggressionen bis zum Krieg hin. Es wäre daher dem Weltfrieden am besten durch eine voranschreitende Säkularisierung gedient. (...)

Wir sollten vielmehr vergleichen, wie die drei Religionen sich heute miteinander oder gegeneinander im Welthorizont präsentieren, denn nur die Gegenwart und Zukunft sind für uns gestaltbar. Es ist friedensfördernd, diese Probleme zu benennen, statt sie zu tabuisieren und mit einem oberflächlichen Gespräch über den Segen der Multikulturalität zuzudecken.

In der medial so eng verflochtenen Weltzivilisation tangiert Missbrauch einer Religion als Motiv und Legitimation für individuelle oder kollektive Aggressionshandlungen immer auch alle Religionen. Er führt zu tiefen Zweifeln in die transzendente Bestimmung des Menschen, zerstört die religiösen Quellen des Ethos und begünstigt - in der Abwehr - eben solche Tendenzen in anderen Religionen. Der da und dort betriebene Missbrauch von Religion befördert auch das gesellschaftliche Vergessen und Verdrängen der Ambivalenzen der Moderne, die inzwischen zahlreiche eigene Tragödien in Konsequenz von Unvernunft und Gewalt hervorgerufen hat.

Um zu verhindern, dass Religion zur Projektionsfläche von Ängsten, Agressionen und partikularer Identität gemacht wird, ist zwischen den Religionen und über nationale und zivilisatorische Grenzen hinweg ein offener, ehrlicher, kritischer Befragung nicht ausweichender Dialog notwendig. Ein solcher Dialog erfordert Anstrengung über gleichgültige Toleranz hinaus, muss aber nicht erst erfunden werden. Ich erinnere an das interreligiöse Friedenstreffen, zu dem Papst Johannes Paul II. im Jänner dieses Jahres zum zweiten Mal nach Assisi eingeladen hatte.

Ein "Dialog der Religionen" im Rahmen eines "Dialogs der Kulturen" bedarf jedoch auch einer neuen Aufmerksamkeit der Zivilgesellschaft für das Wesen und die Realität von Religion. Jürgen Habermas hat dies unter dem Schock des 11. September bei seiner Dankrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels eindringlich postuliert. Habermas stellte fest, dass einerseits aus der Sicht des liberalen Staates nur jene Religionsgemeinschaften das Prädikat "vernünftig" verdienten, die aus eigener Einsicht auf eine gewaltsame Durchsetzung ihrer Glaubenswahrheiten Verzicht leisten. Andererseits betonte er, dass der liberale Staat bisher nur den Gläubigen unter seinen Bürgern zumutete, ihre Identität in öffentliche und private Anteile aufzuspalten. Ein unfairer Ausschluss von Religion aus der Öffentlichkeit, welcher die säkulare Gesellschaft von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneiden würde, kann nach Habermas nur dann verhindert werden, "wenn sich auch die säkulare Seite ein Gefühl für die Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahrte".

Der Autor ist Bischof der Diözese Graz-Seckau.

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