Mißtrauen prägt unsere Gesellschaft

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Der Kommunismus hat tiefe Spuren im Bewußtsein der Ukrainer hinterlassen. Eine große Herausforderung für die Kirchen, wie das folgende Gespräch zeigt.

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Der Kommunismus hat tiefe Spuren im Bewußtsein der Ukrainer hinterlassen. Eine große Herausforderung für die Kirchen, wie das folgende Gespräch zeigt.

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dieFurche: Herr Bischof, Sie sind 1993 in die Ukraine zurückgekehrt, fast fünfzig Jahre nach Ihrer Vertreibung. In welcher geistigen Situation haben Sie Ihre Landsleute vorgefunden?

Lubomyr Husar: Es war fast eine andere Bevölkerung. Eine ganze Generation von Erwachsenen, die im Kommunismus gelebt haben, und die neue Generation, die Kinder und Jugendlichen. Es fällt schwer, eine Verbindung zu diesen beiden Generationen herzustellen. Sie sind im kommunistischen Milieu aufgewachsen und haben sich darin zurechtgefunden. Das ist ihre Welt. Sie wußten genau, was sie sagen durften und was zu sagen gefährlich war. Wir, die wir aus dem Ausland kommen, hören oft: "Wie können Sie das alles so offen sagen?" Für uns ist das selbstverständlich und für sie ist es erschreckend. Wir machen den Fehler, zu denken, die Menschen seien unter dem Kommunismus dieselben geblieben, aber es sind ganz neue Menschen.

dieFurche: Wie hat sich der Kommunismus auf die innere Verfassung der Menschen ausgewirkt?

Husar: Ich glaube, daß wir das noch nicht wirklich erfaßt haben. Aber ich kann ein Symptom nennen: Es fehlt an Vertrauen unter den Menschen, auch in der Familie. Natürlich wird jede Obrigkeit mit großem Mißtrauen angesehen. Das überträgt sich heute auch auf die Kirche. Man darf sich darüber nicht wundern. Im Grunde genommen wird niemandem geglaubt.

dieFurche: Haben die Menschen immer noch Angst?

Husar: Man hielt die Bevölkerung in einem Zustand der Angst. Niemand fühlte sich frei. Noch heute, sieben oder acht Jahre nach der Befreiung, gibt es auf der Straße wenige Leute, die lächeln. Alle sind sehr vorsichtig. Die seelischen Wunden sind sehr tief.

dieFurche: Wie stark ist die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche (UGkK) nach der langen Verfolgung heute?

Husar: Äußerlich wird sie immer stärker, immer besser organisiert. Wir haben eine Struktur aufgebaut, Kirchen gebaut oder erneuert, Zeitungen und Bücher werden gedruckt, es gibt Verlagshäuser. Aber wir müssen uns dessen bewußt sein, daß die Gläubigen gleich welcher Konfession im Kommunismus erzogen worden sind. Man muß sich fragen, wieviel wir von dem überwinden können, was sie in diesen Jahren erlebt haben.

dieFurche: Gibt es Menschen, die das Christentum annehmen, ohne sich innerlich zu ändern?

Husar: Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Nach dem ukrainischen Religionsgesetz müssen aus einer Gemeinde zehn Vertreter gewählt werden. Sie sind vor dem Staat Träger des Eigentums. Die frühere Sekretärin der Kommunistischen Partei dieses Bezirks ist jetzt in einem solchen Kirchenrat. Sie benimmt sich so wie vorher als Sekretärin des Bezirks, schreit herum, schafft Ordnung; wenn jemand kommt, der nicht richtig angezogen ist, wirft sie ihn hinaus. Sie ist so, wie sie war, nur unter einer anderen Flagge. Ist sie wirklich christlich geworden? Sie glaubt, daß sie jetzt eine Christin ist, weil sie nicht mehr im Rat des Bezirks schreit, sondern im Kirchenrat. Einen inneren Umschwung kann man nur dadurch bewirken, daß die Kirche den Menschen eine echte Alternative vor Augen stellt, damit die Leute verstehen: Christlich sein, das heißt nicht, in eine andere Partei einzutreten; das bedeutet, ein anderes Leben zu führen. In diesem Sinne ist die Kirche heute noch nicht stark.

dieFurche: Die in drei Kirchen gespaltene Orthodoxie in der Ukraine wirft der UGkK vor, Gläubige abzuwerben. Man nennt das "Proselytismus".

Husar: Wenn man die Orthodoxen nach konkreten Beispielen fragt, können sie keine nennen. Was geschehen ist und noch immer hier und dort geschieht, ist folgendes: Manche Leute, vielleicht mit, vielleicht ohne den Gedanken des Proselytismus, nur aus einer gewissen inneren Güte, bieten etwa humanitäre Hilfe an, auch Kleinigkeiten vielleicht, Schokolade. Und natürlich laufen die Menschen, die heute sehr arm sind, danach. Und das wird in gewissen Fällen mißbraucht. Aber das sind seltene Erscheinungen.

dieFurche: Ist der Vorwurf des Proselytismus ein Vorwand, um Ökumene zu verhindern?

Husar: Ich denke, daß es so ist. Die Orthodoxen haben heute Angst. Man ist auf diesen Vorwurf zurückgekommen, um sich eine gewisse Stütze zu bauen. Jetzt kann man sagen: Wir würden gerne alles tun, aber wegen der UGkK geht das nicht. Es ist eine bekannte Tatsache, daß es in Rußland um den Patriarchen Alexij II. herum viele Amtsträger gibt, die Angst vor dem Westen, vor der Verunreinigung des orthodoxen Glaubens haben. Als der Patriarch in die USA gefahren ist und mit Rabbinern gesprochen hat, hat man ihm das sehr angekreidet. Als er in Deutschland gesagt hat, vielleicht sollten wir alle einander vergeben, was wir getan haben, da wurde es ihm wieder sehr schwer gemacht. Nach allem, was ich gehört habe, wäre der Patriarch selbst viel offener, aber eine Gruppe der Bischöfe, die sehr traditionell ist und eine Verteidigungshaltung einnimmt, verhindert das.

dieFurche: Hilfsorganisationen aus dem Westen wie das katholische Werk "Kirche in Not/Ostpriesterhilfe" helfen nicht nur den Katholiken, sondern auch der Orthodoxie. Ist das hilfreich, um die Zusammenarbeit zu fördern?

Husar: Solche Hilfe ist an sich gut. Die Orthodoxen brauchen so viel Hilfe wie wir auch. Aber man muß deutlich machen, daß es wirklich nur Hilfe ohne jeden Hintergedanken ist. Denn der Vorwurf des Proselytismus wird gemacht, es wird gesagt, hier werde die Orthodoxie gekauft. Das ist nicht gut. Man muß also gründlich überlegen, wie man diese Hilfe gibt, um den Vorwurf zu vermeiden. Für "Kirche in Not/Ostpriesterhilfe" sind wir sehr dankbar. Dieses Werk hilft seit vielen Jahren genau da, wo wir Hilfe am meisten brauchen: bei der Ausbildung von Priestern, Ordensleuten und Laien. Das hat heute absoluten Vorrang.

dieFurche: Wie ist Ihr Verhältnis zum Staat und wie können Sie mit dem ukrainischen Religionsgesetz leben?

Husar: Offiziell haben wir Freiheit. Es werden uns keine besonderen Schwierigkeiten gemacht. Im Alltag sieht es oft anders aus. Für viele ist die Kirche eine Organisation wie andere auch, aber besonders zu bewachen, weil sie gefährlich ist. Wir Katholiken haben eine Tradition der Freiheit vom Staat. Die orthodoxen Kirchen sind gewöhnt, nicht nur mit dem Staat zusammenzuarbeiten, sondern Teil des Staates zu sein. Sie sagen, das Verhältnis Staat-Kirche ist so wie das Verhältnis Mann-Frau. Wenn der Mann manchmal böse wird oder die Frau, dann ist das natürlich. Aber der Mann ist derjenige, der der Frau das Leben sozusagen ermöglicht. In dieser Hinsicht ist es für uns sehr schwer, mit den Orthodoxen eine gemeinsame Politik gegenüber dem Staat zu entwickeln.

dieFurche: Die UGkK möchte die Ukraine geistlich erneuern. Wie wollen Sie da vorgehen?

Husar: Wir Bischöfe wollen ein Schreiben veröffentlichen, das Antwort auf diese Frage gibt. Es soll darin nicht nur analysiert werden, was im Staat nicht in Ordnung ist, sondern vor allem, was wir als Christen und als Kirche tun können, um das zu verbessern. Wir müssen sehr darauf drängen, daß die einzelnen Leute versuchen, sich aus der geistlichen Misere herauszuarbeiten, zum Beispiel aus der Korruption. Jedermann, vom Präsidenten bis zum letzten Bürger, verurteilt Korruption und korrumpiert weiter und wird korrumpiert. Das muß irgendwo aufhören.

dieFurche: Wie soll der Westen helfen?

Husar: Der Westen soll ein bißchen konsequenter sein. Die Ereignisse im Kosovo haben bei uns die Meinung erzeugt, daß der Westen viel spricht, aber wenig tut. In Kuwait gab es Öl, sofort waren 100.000 Soldaten dort. In Bosnien und im Kosovo gibt es kein Öl. Wir sind nicht überzeugt vom moralischen Charakter des Westens. Wäre der Westen christlicher, würde uns das sehr helfen.

Das Gespräch führte Michael Ragg.

Zur Person Heimkehrer in die Ukraine nach 50 Jahren im Westen Lubomyr Husar ist im Februar 1933 in Lemberg (Lwiw) geboren. Nach der Vertreibung seiner Familie aus der Ukraine hält er sich zunächst in Österreich auf, um 1949 in die USA zu emigrieren. Dort studiert er zunächst Philosophie und dann Theologie. 1958 wird Husar Lizentiat am Priesterseminar des Hl. Josaphat und erhält die Priesterweihe. Von 1958 bis 1969 wirkt Husar als Lehrer und Präfekt am Seminar des Hl. Basilius in Stamford. Ab 1965 ist er außerdem Pfarrer in Kerhonkson.

1972 promoviert Husar und tritt in das Kloster des Hl. Theodor in Grottaferrata ein. 1978 ernennt ihn Kardinal Josyf Slipyj zum Archimandriten des Klosters. Zum Bischof geweiht wird er 1977.

1993 kehrt Husar in die Ukraine zurück, wo er Spiritual am Priesterseminar in Lemberg wird. Seit 1996 ist er Weihbischof der mit Rom unierten Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche in Lemberg.

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