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Mit dem „dritten” Auge sehen lernen

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Ist die Banalität das Hauptproblem von heute? Flüchtet die Menschheit statt in die Zukunft in globale Perspektiven?

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Ist die Banalität das Hauptproblem von heute? Flüchtet die Menschheit statt in die Zukunft in globale Perspektiven?

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Jeder kann heute wissen, daß wir vor Problemen stehen, die mit unseren üblichen Vorstellungen und Gewohnheiten nicht gelöst werden können. Der Westen ist in einer Sackgasse. Der Westen - das ist nicht nur Europa und Nordamerika, das ist die politische Elite der meisten Länder der UNO. Ausgerechnet die Zivilisation, die in der „Entwicklung” das Motto schlechthin ist, ist in sich selbst gefangen. Es braucht Mut, dies in der ganzen Dimension zu sehen.

Einer der wenigen, die diesen Mut haben und nicht bloß die apokalyptische Glocke („fünf Minuten nach zwölf”) läuten, ist Raimon Panikkar, der katalanisch-indische Religionsphilosoph, der auf drei Kontinenten zu Hause ist. Er ist einer der Prominenten im religionenübergreifenden Gespräch. Dem Westen steht er so nah, daß er ihn mit der fürs gute Sehen nötigen Distanz erkennt. Vor kurzem erschien bei Anton Pustet (Salzburg) sein Buch „Der Dreiklang der Wirklichkeit”.

In einem Gespräch in Wien betonte er die Banalität als das Hauptübel des Westens: „Sie herrscht im technokratischen Komplex, im Denken der führenden Eliten auf der ganzen Welt. Die Frivolität ist lebensnotwendig, um zu überleben. Wer dagegen kämpft, steht in Gefahr, Arbeit und Lebensunterhalt zu verlieren. Wir stehen vor der Entscheidung, entweder ein banales Leben zu leben oder aus dieser Banalität - mit dem Bisiko des Lebens - herauszutreten.”

Für Baimon Panikkar ist klar, daß die dem Zeitgeist verpflichteten Beschwichtigungen und Mediokritäten niemandem mehr helfen. Daß kirchlich Verantwortliche ebenso wie andere mitten dfin im Komplex der Banalität stecken, ist jedem aufmerksamen Beobachter längst klar. Ebenso, daß hier die Ursache der „Kirchenkrise” zu suchen ist.

Die Erscheinungsform dieser Banalität ist die Flucht in globale Perspektiven. Diese Flucht ist an die Stelle der Flucht in die Zukunft getreten, die in futurologischen Perspektiven vor 20 bis 30 Jahren ihren Ausdruck fand. Da die Sackgasse der Entwicklung jedoch deutlich genug ist, glaubt man wohl, die Probleme dadurch lösen zu können, daß man die ganze Welt hineinzieht. So redet jeder heute von global issues, man sucht eine „neue Weltordnung”. Nicht eine Flucht in Baum und Zeit hilft weiter - nur die Besinnung auf das Wesen dieser uns gefangen nehmenden Banalität.

„Die Leute verstehen einfach nicht, worum es geht”

Diese ist kurzgefaßt „die Sünde wider den Geist”. Es ist der Blick für die Tiefendimension des Wirklichen verlorengegangen, das „dritte Auge” ist blind. „Die Leute verstehen einfach nicht, worum es geht. Das Organ ist verkümmert.” Panikkar versteht unter dem dritten Auge nicht „eine moderne Erfindung der tibetanischen Lamas”. Er erinnert an die Schule von St. Viktor im zwölften Jahrhundert, in der das Auge des Fleisches, des Verstandes und des Glaubens unterschieden wurde. Im dritten Auge wird eine neue Wirklichkeitssicht offenbar, die die Erfahrung der Sinne und das Denken voraussetzt - und zugleich überschreitet. „Glaube” - dieser vielstrapazierte Begriff - ist das Wort für einen Sprung, einen Kontinuitätsbruch, der die Rede von der „Entwicklung” ad absurdum führt.

Der „Glaube” ist nicht beschränkt auf das Christentum - liier ist er gerade verlorengegangen; darin besteht ja die Sackgasse des Westens. Glaube ist eine Dimension in allen Religionen. Bei uns zeigt die kirchliche Instrumentalisierung des Glaubens seit dem 13. Jahrhundert den Glaubensverlust an. Der Glaube wird vom Verstand überlagert; jeder Theologiestudent muß „Philosophie” studieren. Mystik wiederum ist eine Spezialität - und bis vor kurzem war sie nicht gerade heimisch bei uns. Und überdies kommt es zu psychopathologischen Phänomenen, die den allgemeinen Glaubensverlust besonders dramatisch vorführen - als klinischen Fall.

Wer mit dem dritten Auge sieht, sieht das Unsichtbare. Es handelt sich dabei nicht um Mysteriöses, Geheimnis-, Gefahrvolles. Wie das ABC müssen wir lernen, in der ganzen Wirklichkeit zu leben. Wer das nicht tut, lebt überhaupt nicht, ist auch in den anderen Dimensionen, in den Sinnen und im Denken, verkümmert. So haben viele bei uns den Geschmack und die Buhe des guten Essens verlernt. Das ganze Leben ist oft fremdbestimmt, im Streß.

Die Geschichte des Westens seit dem Mittelalter ist vom Verlust der Gotteserfahrung gekennzeichnet. Panikkar spricht von der „Kultursünde des Abendlandes”. Die „Welt” (im Unterschied beispielsweise vom

„Kosmos” der Antike) ist das Produkt dieser Sünde. Vom Erfolg der Wissenschaften, vom Fortschritt geblendet, verfallen wir einer immer Stärker werdenden Verfinsterung. Doch gilt auch: „Niemand hat ein Becht, die Geschichte zu beurteilen, weil wir kein Kriterium außerhalb der Geschichte selbst haben. Jetzt entdecke ich, daß wir nicht weitergehen können.” Mit der auf die Fortschrittseuphorie folgenden Selbstnegation im Westen ist nichts getan. Tausende von Analysen über die Situation führen nicht weiter, wir bleiben in unserem Unglück am Ende der Welt allein.

Eines scheint klar: Die im Westen zum Durchbruch gelangte technokratische Herrschaft führt Menschen aller Beligionen zueinander. Keiner ist mehr allein mit seinem Unglück. Es kann nicht mehr darum gehen, die Überlegenheit des einen über den anderen zu erweisen, auszuspielen. Kei-' ner ist vom Leid ausgenommen. Eine letzte äußerste Herausforderung dessen, was wir sind, ist angesagt. In der Gefährdung, in der äußersten Zerreißung wird das Leben aus der Verbundenheit aller in der Inkarnation Gottes erfahren. Diese bedeutet die Fülle des Lebens, in der das Göttliche, Kosmische und Menschliche zusammenfinden.

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