Mit dem Gesicht zur Welt

Werbung
Werbung
Werbung

Im Buch "Memoria passionis" formuliert Johann Baptist Metz sein theologisches Vermächtnis als Plädoyer für eine leidsensible Kultur des Gedächtnisses.

In der öffentlichen Wahrnehmung von Religion und Theologie gibt es ein markantes Ungleichgewicht: Ist Religion nämlich offensichtlich wieder zum Gesprächs-und Diskursthema avanciert, so bleibt die Theologie - als (Geistes-)Wissenschaft wie als Disziplin mit gesellschaftskritischem Potenzial - zumeist sprach-und kraftlos im Hintergrund. Im inneren Kreis der Fachtheologie mögen die Argumente geschmeidig klingen und überzeugen, vor dem Auditorium einer breiten, zumeist säkularen Öffentlichkeit jedoch wirkt theologische Rede zumeist kantig, unverständlich und kaum nachvollziehbar.

Neue Politische Theologie

Zu den wenigen Theologen, die sich in den vergangenen Jahren zum Teil deutlich und über den theologischen Tellerrand hinaus gesellschaftlich Gehör verschafft haben, gehört zweifellos der Münsteraner Theologe und Vater der "Neuen Politischen Theologie", Johann Baptist Metz. Sein Werk Glaube in Geschichte und Gesellschaft gehört mittlerweile zu den "Klassikern" systematischer Theologie. In seinem neuesten Buch nimmt er die zentralen Anliegen der von ihm in den sechziger Jahren im Anschluss insbesondere an die so genannte "Frankfurter Schule" entwickelten und bis heute immer weiter entfalteten und präzisierten Politischen Theologie erneut auf und rekapituliert sie unter dem Oberbegriff der Memoria passionis, der Erinnerung fremden Leids.

Theodizee bis Compassion

"Theodizee", "Gotteskrise", "Apokalyptik" und "Compassion" - entlang dieser zentralen und durchaus bekannten Schlagworten entfaltet Metz die These, dass die Erinnerung fremden Leids mehr bedeutet, als ein theologisches oder gar ästhetisches Konstrukt, ja, dass sie ein universales Kriterium an die Hand zu geben vermag, wo der Pluralismus längst alle universalistischen Ideen zertrümmert hat: den Schrei der Opfer, dass ihr Leiden nicht mehr sei.

Entsprechend nimmt das Buch seinen Ausgang bei der "Theodizeefrage", der Frage nach Gott angesichts der abgründigen Leidensgeschichte der Menschheit. Sie gilt es Metz zufolge gerade nicht zu beantworten, sondern - im Gegenteil - auszuhalten, um so die Dramatik der Rede von der rettenden Kraft Gottes erneut spürbar zu machen - und damit zugleich auch die Quellen innerweltlichen solidarischen Handelns, in Metz' Diktion die Quellen der "Compassion", zum Sprudeln zu bringen. Wo die Leidensgeschichte jedoch ausgeblendet oder vergessen wird, wo die anamnetische Kultur des Eingedenkens verroht, drohe - theologisch gesprochen - eine "Gotteskrise" als eine Krise des Humanums, welches laut Metz gerade in der Fähigkeit besteht, das Leiden des Anderen wahrzunehmen.

Geistige Situation der Zeit

Das Buch ist also im Blick auf sein Grundkonzept keineswegs "neu" - im Gegenteil: der Autor macht an keiner Stelle einen Hehl aus der Tatsache, dass dem Werk eine Fülle vorausgegangener Aufsätze und Publikationen zu Grunde liegt, die - überarbeitet und ergänzt - zu einer Gesamtdarstellung zusammengefügt wurden.

Was dem theologischen Auge daher als bloße "Nachlassverwaltung" erscheinen mag, wird den bislang nicht mit Politischer Theologie vertrauten Leser zweifellos reizen und herausfordern: denn wo wird heute, in der Zeit einer tief greifenden Krise der Geisteswissenschaften, die in vorderster Front Philosophie und Theologie von den Universitäten wegzuspülen droht, noch offensiv Theologie "mit dem Gesicht zur Welt" betrieben? Wo schafft die heutige Fachtheologie noch den Sprung in das Fahrwasser gesellschaftstheoretischer Diskurse?

Wer also Stichworte "zur geistigen Situation der Zeit" sucht und wer zugleich einen Durchgang durch die zentralen Anliegen der "Neuen Politischen Theologie" sucht, dem wird diese Zusammenschau kritischer Einwürfe unter dem imperativischen Verdikt der Memoria passionis Anstoß und Aufschluss zugleich bieten. Dabei bleibt das Buch bei allem offensichtlichen Bemühen um Verständlichkeit vor allem eines: das gänzlich unsentimentale, konzentriert vorgetragene Alterswerk eines systematischen Theologen, der auf die zentralen Kapitel seines Lebenswerkes zurückblickt und die Früchte dieses Werks mehr als offene Fragen denn als gediegene Antworten formuliert.

Memoria passionis

Ein provozierendes Gedächtnis

in pluralistischer Gesellschaft

Von Johann B. Metz (Mitarbeit: Johann Reikerstorfer). Verlag Herder, Freiburg 2006. 274 Seiten, geb. e 25,60

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung