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Mit der „reinen Wahrheit'' lügen

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Machtmenschen drängt es relativ oft an die Spitze von Religionsgemeinschaften - sie wollen für die ihnen Anvertrauten (und sich) nur das Beste...

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Machtmenschen drängt es relativ oft an die Spitze von Religionsgemeinschaften - sie wollen für die ihnen Anvertrauten (und sich) nur das Beste...

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Ihr wißt, daß die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen mißbrauchen. Bei euch soll es aber nicht so sein ...” (Mt. 20,25-26). So umreißt Jesus seine Vorstellung von dem, was er als Anbahnung des Reiches Gottes auf Erden seinen Jüngern aufträgt.

„Sonderbarerweise hat sich gerade das, was Jesus nicht wollte, in der Institution Kirche durchgesetzt: Aus dem Willen nach Macht entstanden Hierarchien von Meistern, Lehrern, Vätern, Vätern aller Väter und Diener aller Diener...”, stellt Leonardo Boff nüchtern fest

Die Ursache liegt, so Edin Loväs(2), darin, daß „Machtmenschen den inbändigen Drang haben, die Herzen und Gedanken anderer zu lenken... Es scheint, als ob christliche Gemeinden und Umfelder zu den Bereichen gehören, wo diese Menschen ihre Macht am leichtesten ausüben können ... Eine der einleuchtendsten Erklärungen ist wohl, daß der Machtmensch in dieser Umgebung den Anspruch auf Liebe, Demut, Geduld und Toleranz erheben kann ...

Eine andere Ursache ist die Tatsache, daß sich Christen viel zu sehr daran gewöhnt haben, eine Art Kirchen-politikum zu sein. In dieser Umwelt herrscht eine Einbahnkommunikation. Sie geht einseitig vom Podium, vom Altar beziehungsweise Abendmahltisch und vor allem von der Kanzel aus...

Ein dritter Grund dafür, daß Machtmenschen in christlichen Kreisen so leicht Einfluß gewinnen, ist der Umstand, daß sie in ihrer Argumentation so oft die Bibel verwenden. Sie sind ja meist sehr intelligent und tun sich mit geistigen Dingen leicht. Ganz schnell kann sich solch eine Person eine Reihe von Bibelstellen aneignen, die die eigenen Ansichten unterstützen ... Da sie^charfe Beobachter sind, behalten sie ihre Opfer ständig im Auge, um Angriffspunkte in deren Moral oder Verhalten auszumachen ... Machtmenschen äußern selten völlig unhaltbare Beschuldigungen. Sie greifen tatsächliche'Mißstände auf, dramatisieren und übertreiben aber dabei. Sie sind Experten darin, mittels der ,reinen Wahrheit' unverschämt zu lügen ...”

Es gibt solche Machtmenschen inner- und außerhalb der etablierten Kirchen. Ich bin weit davon entfernt, ihnen dabei böse Absichten zu unterschieben. Sie wollen das Beste für die ihnen Anvertrauten, aber eben nur sie - und einige wenige Gleichgesinnte -wissen angeblich, was für diese das Beste ist. Außerdem ist jeder Mensch, auch der Machtmensch, ein Kind seiner Zeit und kann sich die Dinge oft nicht anders vorstellen, als er sie selbst aus seiner Umgebung erfährt, trotz der Warnung des Apostels Paulus, sich nicht der „Welt” anzupassen (Rom 12,2).

Negativbeispiele aus der Kirchen-geschichte sind Legion. Erfreulicher weise dürfte etwa seit dem Zweiten Vaticanum - leider nicht bei allen, aber doch bei vielen - ein Umdenkprozeß begonnen haben, der uns langsam wieder näher zu dem hinführt, was Jesus mit seiner Kirche beabsichtigte. Außerdem bestand trotz aller dunklen Ereignisse in der Kirche immer weithin Konsens, daß das gebildete Gewissen des Menschen höchste Richtschnur sein muß und daß der Zweck nicht die Mittel heiligt.

Nicht so jedoch in gewissen Gruppen, die ich mit dem aus dem Englischen stammenden Ausdruck „destruktive Kulte” bezeichnen möchte und die sich für ihre Machtansprüche meist auf eine Religion, auch auf die christliche, berufen. Hier gilt die Maxime: „Tritt das Gewissen mit den

Füßen und tue ohne zu denken das, was dir dein Leiter, Ältester oder Guru befiehlt. Um neue Mitglieder zu gewinnen, darfst du auch die Unwahrheit sagen.” Dabei gibt sich diese Maxime menschenfreundlich: man will ja dem von der Kompliziertheit der heutigen Welt überforderten Menschen die Mühe der Entscheidungen abnehmen und ihn außerdem zum

Mitglied einer einzigartigen Elite machen, die allein den meist unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang überleben wird. Die so von der Verantwortung Befreiten fühlen sich dabei sogar subjektiv glücklich; die Herbeiführung dieses Zustandes der Hörigkeit geschieht oft so subtil, daß der einzelne es selbst gar nicht merkt.

Das Herder-Lexikon(3) notiert dazu unter dem Stichwort „Macht”: „Wo die Beeinflussung des Menschen zum Zwecke einer zielgerichteten Lenkung und Prägung seines Bewußtseins, seiner Gefühlslage und sozialen Kontakte ohne dessen freie Zustimmung ausgeübt wird, ist die Grenze zur Manipulation überschritten.” Die Folgen sind schrecklich - die oft selbst nicht wahrgenommene Diskrepanz zwischen eigentlichem eigenen Wollen und aufgezwungenem Müssen führt nicht selten zu.psychischen Erkrankungen (4) und fast immer zu sozialer Entfremdung, in Extremfällen zum Tod von Mitgliedern (Tempel des Volkes 1978, Davidianer 1993, Sonnentempler 1994, zahlreiche Einzelselbstmorde).

Wenn solche Gruppen dann tatsächlich mächtig werden, gefährden sie auch Außenstehende (AUM-Sekte 1995). Die Frage der Machtausübung solcher Gruppen ist daher keine reine Religionsfrage und damit wegen der Religionsfreiheit tabu, sondern ein aktuelles Anliegen der Gesamtgesellschaft.

Was ist zu unternehmen?

Die Erzieher (Eltern, Lehrer) sind aufgerufen, Jugendliche in passendem Alter über die Methoden aufzuklären, mit denen mehr oder weniger obskure Organisationen versuchen könnten, über sie Macht zu erlangen, und diesen Jugendlichen beizeiten das Rüstzeug zu reifer Eigenverantwortung zu geben.

Die Kirchen sind aufgerufen, sich nicht nur verbal von solchen Manipulationsmethoden zu distanzieren, wie dies zum Beispiel bereits 1985 in einem vatikanischen Dokument erfolgte (5), sondern darauf zu dringen, daß sich innerhalb der Kirchen agierende Gruppen oder Einzlpersonen auch tatsächlich daran halten. Leonardo Boff<l): „In Gemeinschaft mit der Gesamtkirche und in Kontinuität mit ihrer Geschichte haben die Träger dieser Funktion (das heißt der Einheit und der Leitung) durchaus eine formale Berechtigung. Diese ist allerdings leer, wenn sie nicht einhergeht mit einer materialen Legitimierung, die im Vergleich mit dem Vorbild des demütigen, armen, schwachen und diestbereiten Jesus erworben wird. Der Stil der Amtsausübung muß jesuanisch sein, das heißt diakonal und voller Achtung, wie zwischen Geschwistern und nicht wie zwischen

Herr und Untergebenem”. Eine solche Kirche wird dann auch glaubwürdig gegen manipulative Gruppen außerhalb ihrer selbst auftreten können.

Die Medien leisten einerseits bei der Information über solche manipulative Gruppen bereits wertvolle Unterstützung, andererseits führen undifferenzierte Berichterstattung und Sensationshascherei oft zu Mißverständnissen. Daher ist bessere Zusammenarbeit vonnöten.

Der österreichische Staat ist dazu aufgerufen, die in einer Entschließung des Nationalrates vom Juni 1994 bereits festgelegten Aufgaben zu verwirklichen:

1. Zusammenarbeit der Behörden auf diesem Gebiet.

2. Aktualisierung des Themas in den öffentlichen Bildungseinrichtungen.

3. Herausgabe einer Broschüre zur Warnung junger Menschen.

4. Unterstützung von Selbsthilfegruppen.

5. Überprüfung der strafrechtlichen Bestimmungen.

Dipl.-Ing. Friedrich Gries* ist

Pressesprecher der „Gesellschaß gegen Sekten- und Kultgefahren - Gesamtösterreichische Elterninitiative”, Obere Augartenstraße 26-28, 1020 Wien, Tel' 3327 5)7. Literatur:

”' Leonardo Boff, Kirche: Charisma und Macht, Studien zu einer streitbaren Ek-klesiologie, Patmos-Verlag, 1985. ”' Edin Leväs, Machtmenschen Die Lust zu herrschen und die christliche Gemeinde, [Übersetzung aus dem Norwegischen], Brendow- Verlag, 1990. ”' Gasper/Müller/Valentin (Hrsg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Wellanschauungen, Herder, 1994.

Michael D. Langone (Hrsg.), Reco-very from Cults. Help for Victims of Psychological and Spiritual Abuse. W. W. Norton & Co, 199). ”' Sekten und neureligiöse Bewegungen - Pastorale Überlegungen, Möglichkeiten und Grenzen des Dialogs, Beiträge zur Begriffsbestimmung. Werkmappe Nr. 69/1994 herausgegeben vom Referat für Weltanschauungsfragen der Erzdiözese Wien

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