Mit der Vergangenheit im Reinen? Argumente gegen Österreichs Versöhnung mit der Vergangenheit

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Hubert Feichtlbauer unternimmt den Versuch einer moralischen Generalbilanz Österreichs. Das Ergebnis fiel zum Teil überzeugend, zum Teil befremdend aus.

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Hubert Feichtlbauer unternimmt den Versuch einer moralischen Generalbilanz Österreichs. Das Ergebnis fiel zum Teil überzeugend, zum Teil befremdend aus.

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Hubert Feichtlbauer beschert dem Leser seines neuen Buches "Der Fall Österreich" Wechselbäder. Man muss ihm hunderte Male Recht geben und ebenso oft widersprechen. Oft beides im selben Absatz. Seine These: Österreich sei "anders als viele behaupten: kein ,Naziland', aber auch kein Musterschüler beim Aufarbeiten von Vergangenheit. Kein Treibhaus für Rechtsextremismus, aber auch kein Ausbund an Toleranz." Wer könnte dem widersprechen?

Jeder kann auch unterschreiben, es stimme nicht, "dass sich Österreich nie seiner Vergangenheit gestellt habe, vor seiner Mitschuld an NS-Verbrechen ständig davongelaufen sei, den selbstkritischen Blick in den Spiegel der Geschichte beharrlich verweigert und den Griff in die Reparationenkassa immer abgelehnt habe." Wie wahr. Detailkrämer, der ich bin, würde ich den Satz allerdings ergänzen. Ein Teil der Österreicher hat sich der Vergangenheit gestellt, damit aber jahrzehntelang selbst isoliert. Das offizielle Österreich tat es sehr spät. Den selbstkritischen Blick in den Spiegel hat es lang nur flüchtig im Vorbeigehen gewagt und für die Opfer griff es nie gern in die Kassa, nie großzügig, nie freiwillig.

Doch der Autor macht es der Kritik schwer, denn er lässt sich kaum fassen. Der Leser wird nicht nur mit Fakten eingedeckt, sondern auch mit Wendungen wie "aber auch" und "einige". Damit wird am laufenden Band halb Gesagtes halb zurückgenommen, eingeschränkt, relativiert. Dabei werden Pappkameraden aufgebaut noch und noch. "Während manche inländische Kritiker Österreichs Vergangenheit nicht ohne ,lächerlichen Daueralarm' diskutieren können". Manche. Sind's nun einige oder viele, sind sie typisch oder nicht? "Nehmen wir endlich das Seziermesser statt des ständig bluttriefenden Schlachtmessers zur Hand, wenn wir vom Nationalsozialismus reden!" Was wird geschlachtet, was sollen wir sezieren? "Wenn nun in einer wissenschaftlichen Abhandlung so getan wird, als wären Nationalsozialismus und alle Nationalsozialisten zusammen ein einheitlicher Block, der nicht genug beschimpft werden kann - muss man da nicht mit Widerspruch und Widerwillen rechnen?" Um welche Untersuchung handelt es sich? Typisch für die österreichische Zeitgeschichtsforschung ist die Gleichsetzung des Nationalsozialismus mit "allen" (!) Nationalsozialisten aber nun wirklich nicht. Von der "abschätzigen, lieblosen, verständnislosen Art, die uns manche Zeithistoriker heute beibringen möchten", ist so oft die Rede, dass man sich sorgenvoll fragt, wen der Autor als Ausnahme gelten lässt. Und wie denn soll man über den Nationalsozialismus schreiben, wenn nicht lieblos?

Klare Abgrenzungen Auch Feichtlbauer selbst lässt es an Abgrenzung nicht fehlen, wo es um die NS-Verbrechen geht. Das ist überhaupt ein großer Vorzug seines Buches: Er bleibt auch jene Fakten nicht schuldig, anhand deren man zu völlig anderen Schlüssen gelangen kann als er. Bald stößt man auf ein so starkes Kapitel wie jenes über die "Schwarz-rote Tragödie": "Die Christlichsozialen wollten die Sozialdemokraten ,besiegen', nicht für eine gemeinsame Arbeit gewinnen. Und umgekehrt war es genau so. Auf dem Weg zu diesem Ziel waren begrenzte Bundesgenossenschaften willkommen oder, öfter noch, angesichts mangelnder Mehrheiten im Parlament unvermeidbar." Besser kann man die Tragödie der Ersten Republik kaum beschreiben. Auch, indem sich der Publizist Hubert Feichtlbauer mehrmals auf jenen Charles Gulick bezieht, dessen Standardwerk "Österreich von Habsburg zu Hitler" 1950 von den ÖVP-Zeitungen noch als Machwerk beschimpft wurde, zeigt er uns, wie viel Österreich aus seinen bittersten historischen Lektionen gelernt hat.

Dann kommen aber wieder Stellen, wo man nur sagen kann: Da stehste ratlos vis a vis. Zwar findet er so manche Äußerung österreichischer Nachkriegspolitiker mit Recht "zum Genieren", doch eine "überkritische Haltung kann auch gefährlich werden". Zielt das auf den nach fünf Jahrzehnten endlich erreichten, relativ breiten antinazistischen Konsens? "Keine Vergebungsbitte geht ihnen weit genug, keine Entschädigung ist angemessen". Wem? Den "morallüsternen Nachgeborenen" frei nach Martin Walser! Aber wann, bitte, erfolgten denn Vergebungsbitten frei von außenpolitischen Zwängen und opportunistischen Erwägungen? Auf das Thema "stets neue Entschädigungen zahlen" kommt Feichtlbauer oft und stets mit unfreundlichem Unterton zurück.

Oft stellt er Selbstverständliches als Verdienst dar. Wer, fragt er nach einer Bilanz des Kriegsleids in Österreich, "wollte solchen inhumanen Wahnsinn ernsthaft verteidigen? Niemand hat es getan. Niemand wünscht eine Wiederholung. Niemand kann behaupten, dass ein solcher Gesinnungswandel nicht positiv zu bewerten wäre." Mag sein. Aber wieso Gesinnungswandel? Wollten die Begeisterten von 1938 die 281.000 Kriegstoten? Immer wieder einmal wird der exzellente Formulierer Hubert Feichtlbauer plötzlich scharf, prägnant, wird sein Buch vergnüglich. Etwa wenn er die Folgen des Parteienverbotes vom 1. Mai 1934 beschreibt: "Dollfuß hatte alle Parteien in denselben Käfig gesperrt - und sich dazu!"

Hingegen begreife ich nicht ganz, warum ein Autor, der die Verdienste des Ständestaates bei der Verteidigung Österreichs gegen Hitler mit guten Gründen so hoch einschätzt, tatsächlich meint, dass "99 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher bei der Volksabstimmung am 10. April 1938 den Anschluss ihres Landes an Deutschland bejaht" haben. Haben sie wirklich? Er behandelt auch diese Frage mit Feststellungen, die eingeschränkt werden und halben Zugeständnissen gegenüber Einwänden: "Natürlich war es keine völlig freie Entscheidung ohne Beeinflussung von außen." Wir erfahren von "allerlei Möglichkeiten, die Stimmberechtigten zu offener oder doch erkennbarer Stimmabgabe zu veranlassen." Kein Satz darüber, wie systematisch diese "Möglichkeiten" genutzt wurden. Kein Satz des Zweifels an der grundsätzlichen Aussagefähigkeit der 99,75 Prozent Ja-Stimmen. Man könne, meint er, nicht behaupten, "dass eine wirklich freie und unbehinderte Abstimmung eine Mehrheit gegen den Anschluss ergeben hätte." Völlig richtig! Bloß kann man das Gegenteil genau so wenig behaupten. Aber mit dieser seltsamen Überbewertung einer unfreien Abstimmung ist der Autor ja in bester Gesellschaft, auch von gestandenen Historikern.

Mit der Aussagefähigkeit der Volksabstimmung steht oder fällt aber die Behauptung, die Nazis hätten nach dem Einmarsch in Österreich die Sympathie breiter Schichten gewonnen, von denen sie vorher abgelehnt wurden. Hier kommt dem Buchautor freilich das Gespür des erfahrenen Journalisten zugute, der zwischen Sympathie und Resignation zu unterscheiden weiß. Der den Jublern jene gegenüberstellt, die einfach aufgegeben hatten - Österreich und vielleicht auch sich selbst. Und der, auch wenn er das offizielle Ergebnis vom 10. April meiner Ansicht nicht kritisch genug bewertet, die gegenläufigen Fakten mitteilt: Die Nazis selbst hielten schon im Juni 1938 etwa 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung für "offene oder versteckte Gegner der Bewegung" und 30 Prozent für reine Opportunisten.

Ein uneingeschränktes Ja zur Darstellung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen! Da kennt Feichtlbauer keine Nachsicht. Ein Ja zu seiner positiven Bewertung der Vertrauenswürdigkeit Österreichs als demokratisches und humanes Land. Meine größten Schwierigkeiten mit dem Buch beruhen auf den emotional getönten Seitenhieben gegen die Wiedergutmachung. Mein größter sachlicher Einwand betrifft die zentrale Fragestellung, ob man Österreichs Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit als einigermaßen adäquat bezeichnen darf. Er ist der Meinung, ich bin es nicht. Die frühen Nachkriegsjahre spielen bei ihm eine eher geringe Rolle. Die damaligen Weichenstellungen wirkten aber jahrzehntelang weiter. Ein Kernthema, Österreichs Justiz gegen NS-Straftäter, stehe pars pro toto, da er sich hier auf mich beruft. Er zitiert meine Kritik an den allzu frühen Begnadigungen, meint aber, ich würde "auch umgekehrte Fälle erwähnen", nämlich mindestens eine 20- und zwei 10-jährige Kerkerstrafen gegen Mittäter an der Ermordung aus Mauthausen ausgebrochener sowjetischer Kriegsgefangener bei der "Mühlviertler Hasenjagd".

Spät die Kurve gekratzt Wieso ist das der "umgekehrte Fall" einer Kritik an der skandalösen Begnadigungspraxis? Weiß ich, wieviel von diesen insgesamt 40 Kerkerjahren abgesessen wurde? Ich hatte mich im "Standard" lediglich an Robert Menasses oberflächlicher Über-drüber-Behauptung gestoßen, "keiner dieser Menschen" sei "nach dem Krieg für diese Morde verurteilt und bestraft" worden. Ich finde nach wie vor, dass Österreichs Umgang mit der Vergangenheit durch und durch verlogen war. Erst nach dem Wegsterben all jener kleinen oder großen, echten oder vermeintlichen, überzeugten oder opportunistischen, mehr oder weniger ehemaligen Nazis, auf die man meinte, Rücksicht nehmen zu müssen, kratzte Österreich die Kurve zum antinazistischen Zeitgeist.

Das ärgste Beispiel für diese "Rücksichtnahme": Nachdem man jahrelang Stein und Bein geschworen hatte, man werde die Mitläufer, die kleinen Nazis, die wegen Formaldelikten, das heißt wegen ihrer Funktionen verurteilten NS-Straftäter begnadigen, keinesfalls aber die Mörder, die Sadisten, die Räuber und Menschenquäler, schickte man sie alle nach Hause, nahezu gleichzeitig, unterschiedslos, ohne Differenzierung. Damit wurde der Anlauf der Justiz zur Gerechtigkeit nicht nur rückgängig, sondern lächerlich gemacht. Damit machte sich Österreich unglaubwürdig. Und das wirkt nach.

Vielleicht ist "Der Fall Österreich" einfach ein Versuch, zu versöhnen. Gräben zu überbrücken. Im Hintergrund steht die große Pattsituation. Die Alternative zur abgelebten, für viele unerträglich gewordenen Großen Koalition ist für einen großen Teil der human und demokratisch Gesinnten unerträglich. Dieses Patt durchbrechen zu wollen, ist ehrenwert. Wie weit es gelungen ist, muss jeder Leser selbst entscheiden.

Der Fall Österreich. Nationalsozialismus, Rassismus: Eine notwendige Bilanz, Von Hubert Feichtlbauer, Holzhausen Verlag, Wien 2000, 386 Seiten, geb., öS 320,-/e 23,26

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