Mit ruhiger Gelassenheit leben

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Meine Gedanken wenden sich voller Zuneigung euch allen zu, liebe Senioren jeder Sprache und Kultur. An euch richte ich diesen Brief in dem Jahr, das die Organisation der Vereinten Nationen zu Recht den alten Menschen gewidmet hat, um die ganze Gesellschaft auf die Lage derjenigen aufmerksam zu machen, die infolge der Last des Alters oft mit vielfältigen und schwierigen Problemen fertigwerden müssen. Wertvolle Überlegungen zu diesem Thema hat schon der Päpstliche Rat für die Laien vorgelegt. Mit dem vorliegenden Schreiben möchte ich lediglich ausdrücken, daß ich euch geistlich nahe bin. Denn von Jahr zu Jahr fühle ich, wie in mir das Verständnis für diesen Lebensabschnitt immer mehr wächst. Damit geht auch das Bedürfnis einher, in unmittelbareren Kontakt zu meinen Altersgenossen zu treten. Ich möchte mit ihnen über gemeinsame Erfahrungen nachdenken und alles unter den Blick Gottes stellen, der uns mitseiner Liebe umfängt und uns mit seiner Vorsehung stützt und leitet.

* Wenn also Kindheit und Jugend die Periode sind, in der sich die Persönlichkeit des Menschen herausbildet, in der er auf die Zukunft hin lebt und, während er sich der eigenen Möglichkeiten bewußt wird, Pläne für das Erwachsenenalter schmiedet, hat auch das Alter sein Gutes. Denn während es - wie der hl. Hieronymus bemerkt - das heftige Aufwallen der Leidenschaften dämpft, "erhöht es die Weisheit und erteilt reiferen Rat". Das Alter ist gleichsam die Hoch-Zeit jener Weisheit, die im allgemeinen Frucht der Erfahrung ist, weil "die Zeit eine große Lehrmeisterin ist". Das Gebet des Psalmisten ist ja bekannt: "Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz" (Ps 90, 12).

* Das Neue Testament, das vom Licht Christi durchdrungen ist, führt uns ebenfalls bemerkenswerte hochbetagte Gestalten vor Augen. Das Lukasevangelium beginnt mit der Vorstellung eines Ehepaares "in vorgerücktem Alter" (1, 7): Elisabeth und Zacharias, die Eltern Johannes des Täufers. Ihnen wendet sich der Herr in seiner Barmherzigkeit zu (vgl. Lk 1,5-25.39-79): dem alten Zacharias wird die Geburt eines Sohnes angekündigt. Er selbst verschweigt es nicht: "Ich bin ein alter Mann, und auch meine Frau ist in vorgerücktem Alter" (Lk 1, 18). Während Marias Besuch ruft ihre betagte Verwandte Elisabeth, erfüllt vom Heiligen Geist: "Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes" (Lk1, 42); und bei der Geburt Johannes des Täufers stimmt Zacharias den Hymnus des Benedictus an. Ein wunderbares Ehepaar in vorgerücktem Alter, tieferfüllt vom Geist des Gebets!

Als Maria und Josef Jesus in den Tempel bringen, um ihn, den Erstgeborenen, nach dem Gesetz dem Herrn zu weihen, begegnen sie dort dem alten Simeon, der schon lange auf den Messias gewartet hat. Er nimmt das Kind in seine Armeund preist Gott mit den Worten Nunc dimittis...: "Nun läßt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden" (Lk 2, 29).

An seiner Seite treffen wir Anna, eine Witwe von vierundachtzig Jahren. Sie hielt sich ständig im Tempel auf und hatte bei dieser Gelegenheit die Freude, Jesus zu schauen. Der Evangelist merkt an: Anna "pries Gott und sprach über das Kind zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten" (Lk2, 38).

Ein alter Mann ist auch Nikodemus, ein führendes Mitglied des Hohen Rates. Er suchte Jesus bei Nacht auf, um von keinem gesehen zu werden. Ihm offenbart der göttliche Meister, daß er der Sohn Gottes und gekommen sei, die Welt zu retten (vgl. Joh 3, 1-21). Wir werden Nikodemus bei der Bestattung Christi wieder begegnen: er bringt eine Mischung aus Myrrhe und Aloe mit, überwindet die Angst und gibt sich als Jünger des Gekreuzigten aus (vgl. Joh 19, 38-40). Wie trostvoll sind diese Zeugnisse! Sie erinnern uns daran, daß der Herr Menschen jeden Alters bittet, ihre Talente einzubringen. Der Dienst am Evangelium ist keine Frage des Alters!

* Und heute? Wenn wir die gegenwärtige Situation genauer anschauen, dann stellen wir fest, daß bei einigen Völkern das Alter geachtet wird und in hohem Wert steht; bei anderen hingegen ist das wegen einer Geisteshaltung, die unmittelbare Nützlichkeit und Produktivität des Menschen an den ersten Platz stellt, weit weniger der Fall. Auf Grund dieser Haltung wird das sogenannte dritte oder vierte Lebensalter oft abgewertet, und die alten Menschen selbst müssen sich fragen, ob ihr Dasein noch zu etwas nütze sei.

Man geht sogar soweit, mit zunehmender Eindringlichkeit die Euthanasie als Lösung für schwierige Situationen vorzuschlagen. Der Begriff Euthanasie hat leider in diesen Jahren für viele Menschen jenes Merkmal des Schreckens verloren, das er natürlich bei denen wachruft, die für die Achtung vor dem Leben empfänglich sind. Sicher kann es vorkommen, daß in Fällen schwerer Krankheiten, die mit unerträglichen Leiden einhergehen, die davon heimgesuchten Menschen versucht sind, ganz aufzugeben. Dann kann es geschehen, daß ihre Angehörigen oder Pfleger sich von einem mißverstandenen Mitleid dazu veranlaßt fühlen, den "sanften Tod" für eine vernünftige Lösung zu halten. In diesem Zusammenhang muß man daran erinnern, daß das Sittengesetz den Verzicht auf sogenannten "therapeutischen Übereifer" billigt und nur jene Behandlungen verlangt, die zu den normalen Erfordernissen ärztlicher Betreuung gehören. Aber die Euthanasie als direkte Herbeiführung des Todes ist etwas ganz anderes! Sie bleibt ungeachtet der Absichten und Umstände eine in sich schlechte Handlung, eine Verletzung desgöttlichen Gesetzes, eine Beleidigung der Würde der menschlichen Person.

* Anderswo, besonders in den wirtschaftlich wohlhabenderen Nationen, muß die Richtung geändert werden, damit die Menschen in vorgerückten Jahren mit Würde alt werden können, ohne befürchten zu müssen, schließlich nichts mehr zu zählen. Es gilt, sich davon zu überzeugen, daß Achtung und Liebe gegenüber den alten Menschen, die sich trotz des Schwindens ihrer Kräfte als lebendiger Teil der Gesellschaft fühlen sollen, zu einer wirklich menschlichen Zivilisation gehört. Schon Cicero schrieb, daß "die Last des Alters für den leichter ist, der sich von den Jungen geachtet und geliebt fühlt".

* Während ich von den alten Menschen spreche, kann ich nicht umhin, mich auch an die Jungen zu wenden. Ich lade sie ein, den Alten beizustehen. Ichfordere euch, liebe junge Leute, auf, dies mit Liebe und Hochherzigkeit zu tun. Die alten Menschen vermögen euch viel mehr zu geben, als Ihr euch überhaupt vorstellen könnt. Das Buch Jesus Sirach spricht in diesem Zusammenhang die Mahnung aus: "Verachte nicht die Überlieferung der Alten, die sie übernommen haben von ihren Vätern" (8, 9); "Verweile gern im Kreis der Alten, wer weise ist, dem schließ dich an!" (6, 34); denn den Hochbetagten "steht Weisheit gut an" (25, 5).

* Während durch das Ansteigen des durchschnittlichen Lebensalters die Gruppe der alten Menschen wächst, wird es immer dringender, eine Kultur zu fördern, in der das Alter angenommen und geschätzt, nicht aber an den Rand der Gesellschaft verbannt ist. Das Ideal bleibt der Aufenthalt des alten Menschen in der Familie, zugleich mit der Gewährleistung wirksamer sozialer Hilfen für die wachsenden Bedürfnisse, die Alter oder Krankheit mit sich bringen.

* So sehr auch der Tod in biologischer Hinsicht rational verständlich ist, so bleibt es doch unmöglich, ihn mit "Natürlichkeit" zu leben. Er steht im Widerspruch zum tiefsten Instinkt des Menschen. Die Aussage des Konzils dazulautet: "Angesichts des Todes wird das Rätsel des menschlichen Daseins am größten. Der Mensch erfährt nicht nur den Schmerz und den fortschreitenden Abbau des Leibes, sondern auch, ja noch mehr die Furcht vor immerwährendem Verlöschen". Sicher bliebe der Schmerz untröstlich, wenn der Tod die vollständige Zerstörung, das Ende von allem wäre. Der Tod zwingt daher den Menschen, sich die radikalen Fragen nach dem eigentlichen Sinn des Lebens zustellen: Was gibt es jenseits der Mauer, die der Schatten des Todes aufgerichtet hat? Markiert der Tod das definitive Ende des Lebens oder gibt es etwas, das über ihn hinausreicht?

Von den ältesten Zeiten bis herauf in unsere Tage fehlt es in der Kulturder Menschheit nicht an oberflächlichen Antworten, die das Leben auf unser Leben hier auf Erden einschränken. Im Alten Testament läßt uns eine Stelle im Buch Kohelet an das Alter denken, als ob es ein im Abbruch befindliches Gebäude wäre. Der Tod wäre dann dessen vollständige und endgültige Zerstörung (vgl. 12, 1-7). Aber gerade im Licht dieser pessimistischen Antworten gewinnt die hoffnungsvolle Aussicht, die von der Offenbarung insgesamt und besonders vom Evangelium ausgeht, größte Bedeutung: "Gott ist kein Gott von Toten, sondern von Lebenden" (Lk 20, 38). Der Apostel Paulus bezeugt, daß der Gott, der die Toten lebendig macht (vgl. Röm 4, 17), auch unseren sterblichen Leib lebendig machen wird (vgl. ebd., 8, 11). Und Jesus sagt von sich selbst: "Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben" (Joh 11, 25-26).

* Während ich euch, meine lieben betagten Brüder und Schwestern, in diesem Geist wünsche, mit ruhiger Gelassenheit die Jahre zu leben, die der Herr für einen jeden bereitet hat, spüre ich das spontane Verlangen, euch bis zum Letzten an den Gefühlen teilhaben zu lassen, die mich am Ende meines Lebens, nach mehr als zwanzig Jahren des Dienstes auf dem Stuhl Petri und in Erwartung des vor der Tür stehenden dritten Jahrtausends bewegen. Trotz der Einschränkungen, die mit dem Alter verbunden sind, bewahre ich mir die Lebensfreude. Dafür danke ich dem Herrn. Es ist schön, sich bis zum Ende für die Sache des Reiches Gottes zu verzehren. Gleichzeitig empfinde ich einen großen Frieden, wenn ich an den Augenblick denke, in dem der Herr mich zu sich rufen wird: vom Leben ins Leben! Darum kommt mir häufig, ohne jeden Anflug von Traurigkeit, ein Gebet auf die Lippen, das der Priester nach der Eucharistiefeier spricht: In hora mortis meae voca me, et iube me venire ad te - in der Stunde des Todes rufe mich und laß mich zu dir kommen. Das ist das Gebet der christlichen Hoffnung, das der Freude über die gegenwärtige Stunde keinen Abbruch tut, während es die Zukunft dem Schutz der göttlichen Güte anheimstellt.

Auszug aus : Johannes Paul II. Brief an die Alten Menschen, Vatikanstadt 1999.

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