Mitten im Leben

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Wir leben in einer Welt, die Gesetzen gehorcht, die wir (noch) nicht verstehen können.

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Wir leben in einer Welt, die Gesetzen gehorcht, die wir (noch) nicht verstehen können.

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Manchmal lösen erst Krisen Nachdenken aus. Der Tod eines Freundes beispielsweise. Als Michael starb, traf mich das im Innersten. Die heile Welt, die ich mir zurechtgezimmert hatte, krachte aus den Fugen. Ich war es gewohnt, dass alte Menschen starben, ich hatte mich mit dem Tod meiner Urgroßmutter, meines Großvaters abgefunden.

Mit dem Tod im Alter konnte ich mich noch arrangieren, irgendwie betraf mich das ja nicht. Aber als junger Mensch so mitten aus dem Leben gerissen zu werden ... ? Oft waren wir zusammen ausgegangen. Ich mochte seinen skurrilen Sinn für Humor, seine ungehemmten Phantastereien, seine Neigung, sorglos in den Tag hineinzuleben. Eines Tages aber erreichte mich die Nachricht seines Todes. Er hatte gemeinsamen Bekannten beim Hausbau geholfen, war von einem Gerüst gestürzt und unglücklich gefallen.

So einfach war das, so schnell ein Leben ausgelöscht. Ich mochte es zunächst gar nicht glauben: 23 Jahre alt war er gewesen, das Alter, in dem das Leben noch alle Möglichkeiten offenhält, in dem die Weichen für die Zukunft erst gestellt werden müssen. Keine Krankheit war seinem Tod vorausgegangen, durch nichts war er vorherzusehen gewesen. Was hatte er nicht für hochfliegende Pläne ausgeheckt, ein Leben allein hätte nicht ausgereicht, sie alle zu realisieren! Und nun war nichts davon übrig, nichts von seinen Träumen verwirklicht, er hinterließ nichts als ein Gefühl der Leere bei jenen, die ihn kannten.

Ich bin nicht zu seinem Begräbnis gegangen. Die Begräbnisse von dahingeschiedenen Verwandten waren mir noch in allzu schlechter Erinnerung: hohle Phrasen, Schablonen, die den Verstorbenen mehr verdeckten als sie ihn würdigten, die einem Leben nicht gerecht werden konnten. Später hatte ich ein schlechtes Gewissen deswegen. Ich hatte mich nicht verabschiedet von meinem Freund. Ich hatte keine Zeit gehabt, mich auf seinen Tod vorzubereiten, mich darauf einzustellen, nun hatte ich mir nicht die Zeit genommen, ihn zumindest nachträglich anzunehmen, ihm Lebewohl zu sagen.

Der Tod eines anderen erinnert immer auch an den eigenen. Der Tod eines Menschen, der einem nahesteht, ist die wirksamste Form des Memento mori. Mit dem Gedanken des Todes aber ist ein anderer unmittelbar verknüpft: jener nach dem Sinn und dem Wie des Lebens. Anders ausgedrückt: Wie lässt sich das endliche Leben sinnvoll gestalten? Oder: Wie führe ich ein Leben, das zu jedem Zeitpunkt ganz ist und fertig, auch wenn es ein jähes Ende finden sollte? Ein Leben, das nicht beim bloßen Entwurf, bei einer Absichtserklärung stehenbleibt.

Meine Stimmung in dieser Zeit kann mit den Worten Kohelets aus einem der seltsamsten Bücher des Alten Testaments wiedergegeben werden: "Es ist alles Windhauch und Luftgespinst." Die Zweifel zehren von einem. Und doch sind es fruchtbare Zweifel (sofern man sich nicht auffressen lässt), sie helfen den Gedanken auf die Sprünge und reißen einen heraus aus dem Trott der Alltagsverpflichtungen, sie sind der Beginn eines Heilungsprozesses. Schließlich entscheidet man sich bewusst für das Leben. Ich bin nun sicherlich kein unglücklicher Mensch, kein Schwarzseher, man glaube das nicht.

Den Garten bestellen Wenn ich sehe, wie sich mein kleiner Sohn entwickelt, wie er Schritt für Schritt seine Umgebung erobert, sie sich aneignet, versöhnt mich das mit der Welt. Manchmal ist es notwendig, sich zu bescheiden. Wir leben in einer Welt, die Gesetzen gehorcht, die wir (noch) nicht verstehen können. Sich dagegen aufzulehnen, macht wenig Sinn. Es ist besser, die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind, es ist besser zu wissen, wofür man ist. Ich bin für das Leben, ohne Wenn und Aber. Was ist nun der Sinn des Lebens? Was ein Leben, auf das man mit Stolz zurückblicken kann, über das man sagen kann: "Ich habe meine kostbare Zeit nicht vergeudet."? "Geh auf den Wegen, die dein Herz dir sagt, / zu dem, was deine Augen vor sich sehen." Wiederum Kohelet. Sicherlich ein probates Mittel.

Ich denke nicht, dass die Schönheiten dieser Welt geschaffen sind, damit wir verächtlich daran vorübergehen. Mit Trübsinn und Untätigkeit ist niemandem gedient, am wenigsten uns selbst. Noch wichtiger aber scheint es mir, seinen Platz im Leben zu finden. Ich denke, wir haben hier eine Aufgabe zu erfüllen, und wir sollten versuchen, dies bestmöglich zu tun, indem wir unser Talent erkennen und es dort einsetzen, wo es am nötigsten gebraucht wird.

Das heißt, seine Kräfte gezielt gebrauchen, sie nicht wirkungslos machen, indem man sie zerstreut. Seinen Wirkungsbereich auf einen Raum beschränken, den man gut und sinnvoll ausfüllen kann. Oder wie Candide am Ende des gleichnamigen Romans von Voltaire meint: "Wir müssen unseren Garten bestellen." Ich glaube nicht, dass dieser Satz resignativ gemeint ist, ich glaube, Candide ist ein glücklicher Mensch.

DER FÜNFTE Reinhard Ebner wurde am 23. September 1973 in Steyr geboren, lebt aber heute nicht mehr in Oberösterreich, sondern in Wien. Nach dem Besuch des Bundesrealgymnasiums in Kirchdorf an der Krems begann er in der Bundeshauptstadt ein Studium der Finno-Ugristik (Ungarisch) und des Französischen. Seit 1995 arbeitet Ebner als Angestellter der Caritas Wien. Der Übersetzer und Dolmetscher kann auch schon auf Publikationen in Literaturzeitschriften verweisen.

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