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Moderner Islam

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Das Problem der Anpassung von Lehre und Weltwirklichkeit ist auch dem Islam nicht erspart geblieben. Das Tempo dieser Anpassung ist durch die Radikalität der Industrialisierung programmiert. Der Verfasser der nachstehenden reli- gionssozialogischen Untersuchung war viele Jahre als Hochschullehrer im Lebensbereich des Islam tätig und lehrt neuerdings als Gastprofessor in Kairo. Seine Darstellungen sind daher der unmittelbaren Erfahrung entnommen und gleichzeitig das Ergebnis einer Konfrontation des neuen revolutionären Aufbruchs der katholischen Kirche in eine gegenwärtige Welt mit ähnlichen und ähnlich begründeten Prozessen im Islam.

Der Herausgeber

Die gewaltigen Veränderungen, die sich in den letzten Jahrzehnten in der Wirtschaft und Gesellschaft der arabischen Länder vollzogen haben, lösten auch im Islam das Problem des „Aggiornamento”, der Anpassung zeitbedingter Anschauungen und Einrichtungen an die moderne Welt, aus. Die Verwandtschaft solcher Strömungen mit den Reformbestrebungen in der katholischen Kirche sind manchmal verblüffend, ebenso die Gegenströmung, die jede Neuerung als Abweichung verurteilt und den Lauf der Zeit aufhalten will. Um die Frage der Anpassung hat sich eine reiche arabische Literatur auf verschiedenen Gebieten der Lehre und des Lebens entwickelt.

Die Autoren sind nicht nur die zuständigen Professoren der Azhar- Universität, des geistigen Zentrums des Islam. Auch — wie Katholiken sagen — Laien haben sich sehr eifrig in die Diskussion gemengt, wie der Wissenschaftler Taha Hussein, ein Philologieprofessor, der seit seiner Jugend blind ist und interessante Studien über die Auffassungsweise des Blinden in französischer Sprache veröffentlicht hat, oder der politische Journalist Muhammed Husain Hai- kal, der Herausgeber der Zeitung Al Ahr am (Pyramide), ein Verfechter der arabischen Spielart des Sozialismus, oder die Frauenrechtlerin Bint esch Schati, Professorin an der Ain-Shams-Universität. oder Politiker wie der Staatsrechtler Al Schafadschi. Auch Dichter haben sich engagiert, wie der Pakistaner Muha- mad Iqbal, dessen Ruf „Zurück zum Ur-Islam” auch in der arabischen Welt starkes Echo gefunden hat. Hier eine Probe seiner Sprache, die noch in der Übersetzung gewaltig klingt. „Ihr habt den Koran verlassen, Ihr seid voll Zorn aufeinander, sie aber waren nachsichtig und edelmütig. Chinas Thron besaßen sie und den Persiens, von Euch aber sagt man, Ihr begehrt nur darnach. Ihr geht in der Rede auf, sie aber in Taten.”

Die Entwicklung des Islam

Die Zeit der ersten Kalifen war erfüllt von Freude und Tatkraft. Sie hatten Missionserfolge von Spanien bis nach China und von Zentralafrika bis an den Aralsee. Das Arabische war dort überall die offizielle Sprache geworden. Die Reaktion auf diese Grundstimmung war die Spaltung, die Schia (Gefolgschaft das Ali). Nun begann die Dogmatisierung der Lehren des Korans, wozu die Überlieferung vom Leben des Propheten herangezogen wurde. Es kam zur „Institutionalisierung” der Religion.

Die fünf Pflichten: Gottesbekenntnis, Gebet, Wallfahrt, Pasten und Armensteuer, wurden im Detail festgelegt. Es entwickelte sich eine Kasuistik sowohl ähnlich Sem Taluid, aber auch teilweise der Moraltheologie des Alfons von Ligori, die den von Skrupel geplagten Gläubigen etwa sagte, eine Waschung vor dem Gebet sei gültig, auch wenn das Wasser nicht natürlich, sondern von einem erhöhten Gefäß durch den Hahn fließt, oder daß er im Fastenmonat von früh bis abends nicht einmal den Speichel schlucken dürfe usw. In gleicher Weise entwickelte sich eine Dogmatik, Lehren über die Eigenschaften Gottes, die Willensfreiheit. Durch Auslegungsstreitigkeiten entstanden zahlreiche Schulen, die sich bekämpften und verketzerten. Im 9. Jahrhundert brachte al Kindi die griechische Philosophie in den Islam, wie sie 400 Jahre später Thomas von Aquin in die Scholastik einführte.

Mit dem 19. Jahrhundert regte sich der Modernismus. Ihr Wortführer war Muhammed Abduh. Er sagte: „Seit dem 13. Jahrhundert hörte das selbständige Denken auf; die alten Lehren wurden unkritisch überliefert. Das ist beim Tier, nicht aber beim Menschen entschuldbar.”

Der Streit um die Mystik

Zu diesem Richtungsstreit in der Theologie kam noch am Rande des Islam die Askese und die Mystik, die vielleicht noch von den christlichen Säulenheiligen des 4. Jahrhunderts, den budhistischen Mönchen und den Manichäern Persiens beeinflußt war.

Ständig wiederholte Sprüche, Tanz unter Flöten und Trommelklang sollten in einen Zustand der Entrückung und der unmittelbaren Schau Gottes führen. Dabei mußte sich der Mystiker willenlos einem Führer anschließen. „Sei vor ihm wie ein Toter vor dem Wäscher”, sagt Ibn al Arabi (13. Jahrhundert). Heute noch geht der Streit um die Berechtigung einer solchen Richtung im Islam, da sie einerseits zu einer besonderen Innigkeit des Glaubens führt, anderseits aber sich manchmal sehr stark dem Pantheismus nähert (wie übrigens auch zeitweise die christliche Mystik Meister Eckehards oder Taulers).

Der neue Modernismus im Islam verbindet die Religion mit den politischen Freiheitsbewegungen: Anti- Kolonialismus, Industrialisierung als Weg zu gehobenem Lebensstandard, Beseitigung der Klassenunterschiede, das alles ist bereits in der Lehre des Koran vorgebildet. Man muß nur eine neue Interpretation finden und die erstarrten Gedankengänge der Vergangenheit abstreifen. Diesem Ziel ist heute eine immer stärker wachsende Literatur gewidmet, Abd ar Razzak in Kairo weist darauf hin, daß Glaube und Naturwissenschaft keine Gegensätze sind, sondern daß die moderne Forschung Pflicht für den Gläubigen ist. Der Koran habe schon die Erdumdrehung verkündet, die Kernspaltung ist im Koran angedeutet: „Sieh nur am letzten Tag, da der Himmel einen sichtbaren Rauch bringt, der die Menschen bedeckt als schmerzliche Strafe.”

Praktische Folgerungen

Noch viel weitergehend sind die „Anpassungen” auf dem Gebiet der religiösen Übungen und der Lebensführung. Noch heute knien in Kairo am Freitag auf den belebten Straßen der Innenstadt zahlreiche Gläubige und beten in ritueller Form (Beugen, bis die Stirne den Boden berührt, Hände erheben, aufstehen usw.), wenn der Lautsprecher das Mittagsgebet aus der Moschee überträgt. Während des Fastenmonats Ramadan ist die Arbeit in Ämtern und Fabriken stark reduziert, da die Enthaltung von Speise, Trank und Rauchen von Sonnenaufgang his -Untergang die Leistungsfähigkeit herabmindert. Es ist erstaunlich, wie sich Gebildete ebenso wie Arbeiter und Fellachen an diese Vorschriften halten. Für die Gebetsübungen ist in jeder neuen Fabrik eine Moschee gebaut worden. Die Einehe, obwohl nicht verlangt, wird heute von den meisten Modernisten als Normalfall angesehen. Die Verschleierung der Frau wird als alter Volksbrauch gedeutet, der mit der Modernisierung des Lebens aufgegeben werden kann. Ebenso ist das Frauenstudium nicht mehr verpönt, sondern sogar als Pflicht aus dem Koran herausgelesen. Die Universitäten haben beinahe 50 Prozent weibliche Hörer. Koedukation in der Volksschule ist üblich. Die Verkleinerung der Kluft zwischen arm und reich, die Armenfürsorge und Krankenpflege werden als religiöse Pflichten dem Staat auferlegt. Der einzelne hat nach seinem Vermögen beizusteuern. Die bereits erfolgte Aufteilung des Großgrundbesitzes kann sogar aus dem überlieferten Erbrecht abgeleitet werden.

So wird also versucht, alle Aufgaben des Industrialisierungsprozesses als religiöses Gebot zu deuten, die Bildung eines unabhängigen Staates und die Befreiung vom Kolonialismus als Naturrecht der Nation darzustellen und die moderne Lebensweise als durchaus dem Ur- Islam entsprechend nachzuweisen. Auf diese Weise vollzieht sich der Übergang zur Industriegesellschaft nicht, wie im Europa des 19. Jahrhunderts, im Gegensatz zur Religion; es kommt zu keinem Abfall der Arbeiterschaft, die Wissenschaftler werden nicht Atheisten, die Politiker und Wirtschafter nicht bloße Lippenbekenner, die Frauenrechtler nicht antikirchlich. Vor allem aber gewinnt der Islam durch dieses Aggiornamento eine neue missionarische Anziehungskraft, vor allem bei den jungen Völkern Afrikas, deren Erfolg bereits in erstaunlichem Umfang sichtbar ist.

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