Moralische Grundwerte

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Durch den Regierungswechsel in Österreich und seine Begleitumstände sind auch die Kirchen herausgefordert.

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Durch den Regierungswechsel in Österreich und seine Begleitumstände sind auch die Kirchen herausgefordert.

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Auch wenn es die neue Koalition Österreich, das übrige Europa und wohl auch sich selbst glauben machen will: Die Bildung der neuen Regierung ist kein normaler, demokratisch legitimierter Machtwechsel wie jeder andere. Sie bedeutet auch nicht nur das Ende einer langen politischen Ära, sondern erschüttert die Republik in ihren geistig-moralischen Grundfesten.

Von einer "Normalisierung" Österreichs, wie es Wolfgang Schüssel sieht, kann derzeit kaum die Rede sein. Man mag wie Robert Menasse darauf hoffen, daß sich die Regierungsbeteiligung einer rechtspopulistischen Partei, die bisher ein Tabu war, zu guter Letzt nicht als Niedergang der Demokratie, sondern als List der Geschichte erweist, die auf verschlungenen Wegen zur Erneuerung der Demokratie und ihrer humanistischen Grundwerte führt. Zunächst aber bedeutet sie, daß die moralischen Grundwerte der Republik auf dem Prüfstand stehen.

Der einmalige und beklemmende Vorgang, daß Österreichs Zugehörigkeit zur europäischen Wertegemeinschaft sogar in der Präambel zum Regierungsprogramm gegenüber der Weltöffentlichkeit schriftlich versichert werden muß, zeigt, wie außergewöhnlich die Lage ist. Wenn eine sich auf christliche Grundwerte berufende Partei der Ansicht ist, der politische Zweck rechtfertige das Mittel, ein Zweckbündnis mit einer Partei zu schließen, deren Vorsitzender vom Europäischen Parlament wegen ausländerfeindlicher und rassistischer Äußerungen verurteilt wird, und wenn zwei Ministerkandidaten vom Bundespräsidenten wegen Verletzung politischer Anstandsregeln oder einer ausländerfeindlichen Wahlkampfführung abgelehnt werden, dann herrscht nicht Normalität, sondern der geistig-moralische Ausnahmezustand.

Damit wird nicht behauptet, die Grundwerte der Demokratie, Menschenwürde und Humanität in Österreich stünden nur noch auf dem Papier, wohl aber, daß sie sich keineswegs mehr von selbst verstehen. Die politische Krise ist im Kern eine moralische.

Kein Grundkonsens?

Der Machtwechsel am Ballhausplatz macht offenkundig, wie notwendig es ist, daß sich unsere Gesellschaft über ihre moralischen und weltanschaulichen Grundlagen neu verständigt. Offenbar gibt es in Österreich keinen Grundkonsens mehr, der bei alle gesellschaftlichen Kräften und Gruppen außer Streit stünde. Es steht zu erwarten, daß sich die nun aufgerissene Kluft vergrößern wird.

Jenseits der tagespolitischen Auseinandersetzungen lautet die eigentliche Frage, welche Grundüberzeugungen die österreichische Gesellschaft noch zusammenhalten. An ihrer Beantwortung entscheidet sich die Zukunft des Landes. Alle Versuche der politischen, auch ökonomisch motivierten Schadensbegrenzung, die lediglich darauf abzielen, möglichst rasch und buchstäblich zum business as usual zurückkehren zu können, sind zum Scheitern verurteilt. Die Forderung der neuen Koalition, auch die politischen Gegner möchten Österreich gegen vermeintlich ungerechtfertigte Kritik aus dem Ausland in Schutz nehmen, muß als durchsichtiger politischer Versuch der Einbindung und Vereinnahmung gewertet werden, der sich einen falsch verstandenen Patriotismus zunutzte zu machen versucht.

Die moralische Krise wird weder durch erzwungene Akte von political correctness, etwa durch Lippenbekenntnisse zur europäischen Wertegemeinschaft, noch durch bloße moralische Entrüstung gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus gemeistert. Notwendig ist zunächst die schonungslose Analyse der Krise, ihres wahren Ausmaßes und ihrer Ursachen. Notwendig ist aber auch die Absage an jede Form der moralischen Heuchelei, die von eigenen politischen Fehlern und dem Erfordernis überfälliger Reformen abzulenken versucht.

Fundamente gesucht Bedenklich ist, in welchem Ausmaß moralische Grundwerte einerseits durch den puren Willen zur Macht und andererseits durch das Ressentiment verdrängt werden. Verschlissen ist die Idee der Solidarität, und humanistische Werte wie Freiheit und Recht werden unter der Hand in ihr Gegenteil verkehrt. Die Freiheitlichen sind vor allem deshalb politisch so erfolgreich, weil sie hemmungslos eine Politik des Ressentiments betreiben, gegen "die da oben", gegen "das politische System", gegen "die Ausländer", gegen "das Ausland". Sollten derartige Ressentiments am Ende der einzige Sozialkitt sein, der Österreich noch zusammenhält? Wer freilich die Unmoral des Ressentiments bekämpfen will, muß nach ihren Ursachen fragen und überzeugende Alternativen bieten.

Die Frage nach den geistig-moralischen Fundamenten der Gesellschaft ist nicht nur ein österreichisches, sondern ein europäisches Problem. Daß die Europäische Union, wie jetzt betont wird, nicht nur eine Wirtschafts- und politische Union, sondern auch eine Kultur- und Wertegemeinschaft ist, kann nicht als Zustandsbeschreibung, sondern nur als Formulierung einer beständigen und keineswegs abgeschlossenen Aufgabe betrachtet werden. Es genügt heutzutage nicht, stereotyp an die Werte und Traditionen des christlichen Abendlandes zu appellieren oder auf die Europäische Menschenrechtskonvention zu verweisen.

Der gesellschaftliche Pluralismus und die auf den Begriff der Globalisierung gebrachten ökonomischen und politischen Umwälzungen zwingen dazu, die Grundwerte von Menschenwürde, Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Solidarität mit neuem Leben zu erfüllen und gegen ihren ideologischen Mißbrauch zu schützen.

Es stellt sich die Frage nach der Haltung und Aufgabe der Kirchen. Ihre öffentliche Zurückhaltung in den politischen Turbulenzen der letzten Wochen und Tage ist durchaus verständlich. Auf die Dauer reicht es jedoch nicht, wenn etwa Kardinal Schönborn darauf verweist, daß allen Parteien, also auch der FPÖ, Christen angehören. Sofern es um die Grundwerte der österreichischen Demokratie geht, genügt es nicht, an das Gewissen des einzelnen zu appellieren. Vielmehr müssen sich auch die Kirchen ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung bewußt sein, und dies um so mehr, als die Ökumene der Kirchen eine Wertegemeinschaft repräsentiert, die alle nationalen und sozialen Grenzen überschreitet.

Angesichts der tiefgreifenden Krise gewinnt das vom Ökumenischen Rat der Kirchen angekündigte Sozialwort eine neue Dimension. In ihm sollten die Grundzüge einer neuen Kultur der Solidarität erkennbar werden, deren weithin entleerter Begriff aus dem Geiste Jesu von Nazareth mit neuem Leben gefüllt wird. Der zur Vorbereitung des Sozialwortes eingeleitete Konsultationsprozeß könnte zu einem wichtigen Ort werden, an welchem die nun anstehenden Grundwertediskussion abseits der tagespolitischen Auseinandersetzungen geführt wird.

Kirchen gefragt Die Kirchen verstehen sich als "dritter Ort" in der Gesellschaft. Ihre parteipolitische Unabhängigkeit darf freilich nicht mit wertemäßiger Neutralität verwechselt werden. Ganz im Gegenteil ist der sozialdiakonische Beitrag der Kirchen nur aus einer in Grundfragen wie der Würde des Menschen, sozialer Gerechtigkeit und Solidarität mit den Schwachen entschiedenen Position heraus zu leisten. Die Kirchen dürfen keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß zwischen christlichem Ethos und einer Moral des Ressentiments eine fundamentale Unvereinbarkeit besteht. Beispielhaft sei die Erklärung der Generalsynode der Evangelischen Kirche in Österreich zu Fremdenhaß und Rassismus vom November 1999 in Erinnerung gerufen.

Freilich sind auch die Kirchen als Institutionen des Gewissens längst nicht mehr unangefochten und über jeden Zweifel erhaben. Auch für ihre Glaubwürdigkeit ist der politische Umbruch in Österreich eine ernsthafte Bewährungsprobe.

Der Autor lehrt Systematische Theologie an der Evang.-theologischen Fakultät in Wien.

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