Mutter Teresas innere Finsternis

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Der laufende Seligsprechungsprozess brachte zu Tage, dass Mutter Teresa schwere seelische Krisen durchleiden musste.

Am 5. September 2001, ihrem vierten Todestag, sprach P. Brian Kolodiejchuk, Postulator des Seligsprechungsverfahrens für Mutter Teresa (1910-97), in einem Interview mit Radio Vatikan davon, dass die 60 Jahre lang in den Slums von Kalkutta tätige Ordensfrau und Gründerin der "Missionarinnen der Nächstenliebe" schwere seelische Krisen durchlitten und jahrelang in einem Zustand "innerer Finsternis" gelebt habe.

Zugleich wurden Aussagen des Erzbischofs von Kalkutta, Henry Sebastian D'Souza, bekannt, wonach der Salesianerpater Rosario Stroscio 1997 in seinem Auftrag an der Ordensgründerin ein exorzistisches Ritual ausübte, nachdem diese nach einer Operation über Schlafstörungen geklagt hätte. Am 6. September präzisierte D'Souza in einem Interview mit der Tageszeitung "Il Messagerio": Es habe sich um ein kurzes Gebet und nicht um einen "Exorzismus im eigentlichen Sinn" gehandelt. Mutter Teresa sei nicht vom Teufel "besessen" gewesen oder schikaniert worden, es habe sich vielmehr um eine "Form der Belästigung" gehandelt, wie sie viele Heilige erlebten.

Christliche Heldenrhetorik

Für manche Christen ist schon der Gedanke schrecklich, dass Heilige Schattenseiten und Charakterschwächen hatten oder von Glaubenszweifeln geplagt wurden. Warum eigentlich? Deren Vorhandensein macht einen Menschen nicht weniger glaubwürdig. Problematisch hingegen sind "geschönte" Lebensläufe, wenn Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ihre Biographie umschreiben (lassen), indem sie etwa eine "wilde Jugend" konstruieren, um das Image des Langeweilers abstreifen zu können (wie CDU-Fraktionschef Friedrich Merz) oder indem sie ein Hochschulstudium erfinden, das hohe Intelligenz beweisen soll). Ähnliches kann auch in Heiligenviten passieren, die nicht selten bereits ab der Wiege befremdende Heldenrhetorik einsetzen und einen Menschen zum Idol stilisieren, das allem Menschlichen entrückt ist. Was da an Meterware in kirchlichen Bibliotheken steht, ist oft völlig unbrauchbar.

Solche inszenierten Mechanismen bewirken freilich, dass alles, was das (künstliche) Bild eines Menschen stört, als böser Sturz vom Sockel eines Denkmals empfunden wird. Heilige und Selige der Kirche sind keine Übermenschen. Dazu werden sie höchstens - gut gemeint, aber falsch gedacht - in (bigotter?) Verehrung gemacht. Zweifellos handelt es sich bei Kanonisierten um Menschen, die ihr Christsein exemplarisch gelebt haben, in einem Maß, dass die Kirche nach langjährigen Verfahren zu dem Schluss gelangt: Dieses Lebens- und Glaubenszeugnis soll der Nachwelt erhalten bleiben.

Menschlichkeit - Glaubwürdigkeit

Nur wer fixe Vorstellungen davon hat, was das Bild exemplarischen Christseins ausmacht, kann das als peinlich empfinden, was nun über Mutter Teresa bekannt wird: Ihre inneren Kämpfe, ihre Suche nach dem richtigen Weg, die Erfahrung der Gottverlassenheit, die Sehnsucht nach Jesus, der sich ihr entzog ... All das gehört dazu und macht ihren Weg der Nachfolge Jesu weitaus glaubwürdiger, als würde man - was auch vorkommt - gerade Linien ziehen können: In einer Zeit, in der viel Wert auf "Erfahrung" gelegt wird, kann die Erfahrung der Verlassenheit und der Finsternis Ansporn dafür sein, auch solche Phasen, und währen sie Jahrzehnte, als von Gott gewollt und begleitet zu empfinden.

Christen, aber auch vielen Hindus und Muslimen war Mutter Teresa Vorbild und Ansporn. Die durch ihren Dienst an Kranken, Sterbenden, sozial Deklassierten berühmt gewordene, 1979 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete albanische Christin, die - beispiellos seit dem Begräbnis Mahatma Ghandis (1948) - mit einem indischen Staatsbegräbnis geehrt wurde, soll Skrupel und Zweifel gekannt haben, wie sie vielen "durchschnittlichen" Christen nicht fremd sind: Das ist tröstlich und macht diese Nonne, deren Markenzeichen der blaugesäumte Sari war, noch sympathischer.

Allzumenschliches aus einem Leben auszublenden - in gewiss guter Absicht, aber de facto um den Preis biographischer Verfälschung - lässt nicht mit dem Menschen, der verehrt wird, begegnen, sondern mit der Ikone der eigenen Phantasie. Vorbildhaftigkeit kann motivieren. Aber sie kann auch erdrücken, weil man sich denkt: Das schaffe ich nie. Tröstlich ist es daher, wenn bekannt wird, dass auch Große Schweres erlebt, Dunkelheiten und Abgründe gesehen haben.

Von Teresa von Ávila (1515-82), deren Namen Mutter Teresa wählte, weiß man heute: Fast 20 Jahre lang hatte die spanische Ordensreformerin keine "Gotteserfahrung". Die "kleine Thèrèse" von Lisieux (1873-97) kannte die "schwarze Nacht des Glaubens" (Christian Feldmann) und wurde von schrecklichen Glaubenszweifeln geplagt. Heilige Menschen kannten Abgründe. Auch Mutter Teresa.

Die Innenseite Mutter Teresas

Im März hat der Vorarlberger Jesuit Josef Neuner, selbst seit über 60 Jahren in Indien (vgl. furche 25/01), in einem Artikel in "Vidyajyoti/Journal of theological reflection" auf verborgene Züge Mutter Teresas aufmerksam gemacht. In der September-/OktoberNummer der Jesuitenzeitschrift "Geist und Leben" hat er seine Erfahrungen unter demselben Titel - "Mutter Teresas Charisma"- für deutschsprachige Leser zugänglich gemacht.

Der 93-jährige Dogmatikprofessor war mit Mutter Teresa jahrzehntelang befreundet. Für den Seligsprechungsprozess, für den seit 1999 über 115 Zeugen befragt und 76 Bände mit 35.000 Seiten Material zusammengestellt wurden, war er theologischer Zensor. Am 15. August dieses Jahres war mit einer feierlichen Zeremonie die erste Phase beendet worden: Die Akten wurden zur Auswertung an die Kongregation für Heiligsprechungen nach Rom weitergeleitet. Bei seinem Europaaufenthalt in der ersten Jahreshälfte ließ Neuner durchblicken, wie schwer es ihm fiel, auf die (auch der eigenen Gemeinschaft bis kurz vor ihrem Tod verborgen gebliebene) Innenwelt Mutter Teresas in einem Artikel hinzuweisen - es sei der Vorwurf zu befürchten gewesen, er wolle die Seligsprechung torpedieren.

Unter dem Einfluss von Jesuiten, die in Westbengalen wirkten, für die Indienmission begeistert, war Agnes Gonxha Bojaxhiu 1928 bei den Loretoschwestern in Irland eingetreten und wurde schon während des Noviziats nach Darjeeling geschickt. Zunächst wirkte Schwester Teresa als Lehrerin und Leiterin einer höheren Schule bei Kalkutta, neben der ein Armenviertel lag. 1937 entschloss sie sich, ihr Leben ganz den Armen zu widmen, aber erst 1948 erhielt sie die Erlaubnis, ihren Orden zu verlassen und in den Slums zu arbeiten. 1950 gründete sie die "Missionarinnen der Nächstenliebe".

Der Durst Jesu

Am 10. September 1937 machte sie während einer Eisenbahnfahrt "die erschütternde Erfahrung des Durstes Jesu am Kreuz". Dieses Datum gilt als Gründungstag der "Missionaries of Charity". Teresas Worten zufolge war dieses Erlebnis "etwas so Intimes", sodass sie auch in der eigenen Gemeinschaft lange nicht darüber sprach. Es wurde zum Impetus ihres Ordens: Der Dienst an den Armen "ist nur da, um Jesu Durst zu stillen". Das sei "viel mehr als wenn Jesus sagte: ,Ich liebe dich'." Diese Erfahrung ging auch in die Konstitutionen des neuen Ordens ein: Durch die intime Nähe zu Jesus in seinem Durst nimmt die Gemeinschaft an Jesu Erlöserleben teil.

Nach Pater Neuner bestand das Charisma Mutter Teresas in diesem Wort Jesu am Kreuz: "Mich dürstet" ("sitio"). Aus Dokumenten gehe hervor, dass ihr "neues Leben im Dienst der Ärmsten ... von tiefer Dunkelheit" umfangen wurde. Vier Erfahrungen ziehen sich durch: "die dauernde Dunkelheit", "das Gefühl, ausgeschlossen zu sein", "die Bereitschaft, die Qual dieses Durstes lebenslang zu tragen" und "die unerschütterliche Gewissheit, dass ihr Werk, die Gemeinschaft ihrer Schwestern Gottes Gabe sind".

Die kleine Frau mit dem stetigen Lächeln fühlte sich verlassen, ohne Liebe Gottes: Die ungestillte, schmerzende Sehnsucht nach Gott wurde Mutter Teresa zur prägenden Lebens- und Glaubenserfahrung - trotz rapid steigender Eintritte und internationaler Anerkennung und Auszeichnungen. Neuners Artikel bezeugt einen ungewöhnlichen inneren Weg, ein Ringen, das bisher weitgehend verborgen und unbekannt war. Gerade darin aber kann Mutter Teresa heute vielen Menschen, deren Sehnsucht ungestillt bleibt, und die sich von Gott verlassen fühlen, Vorbild - Schwester im Leben wie im Glauben - sein.

Der Autor ist stv. Redaktionsleiter der Jesuitenzeitschrift "Stimmen der Zeit" in München.

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