Nach dem Koran sind alle Menschen gleich

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Warum es dem Islam schwerfällt, den Eingang ins 3. (christliche) Jahrtausend zu finden. die furche, 3. 6. 1999

N icht ursprüngliche, sondern abgeleitete Lehrquellen machen es dem Islam schwer, den Eingang in das dritte Jahrtausend klaglos zu finden. Zu solchen Quellen gehört die Tradition des sunnitischen Islam, der die überwiegende Mehrheit der Muslime anhängen. Konstitutiv für den Glauben ist jedoch allein die Offenbarung, die sich im islamischen Fall mit einer etwas verklärten und in einigen Punkten abgeänderten Bibellehre deckt: Die Lektüre des Koran vermittelt ein weiter ausgeformtes Bild, ein "reformiertes" der biblischen Tradition. [...]

Alle Menschen sind nach dem Koran gleich. "Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr euch auseinanderkennt, aber der Vornehmste bei Gott ist derjenige, der die Selbstbeherrschung übt" (Koran 49:13). [...]

Zeitdokument Koran

Der Vorstoß der Osmanen nach Europa war nicht durch religiöse, sondern durch machtpolitische Beweggründe ausgelöst ... Der Prozeß der Islamisierung eines Landstriches oder eines Volkes ist von der militärischen Ausweitung muslimischer Staaten streng zu unterscheiden. Das waren voneinander getrennte Prozesse.

Um den Koran richtig zu verstehen, muß man mit den Inhalten der Kausalkunde der Offenbarung ('ilm asbab an-nuzul), die die äußeren Umstände der Entstehung des Korans aufzeigt, vertraut sein. Diese zeigt eindeutig, daß auch die Offenbarung des Koran in Raum und Zeit eingebunden ist. Damit ist der Abbau mancher Schärfe im Koran möglich. Wenn man ferner berücksichtigt, daß Muhammads Botschaft mündlich und aus dem Stegreif vorgetragen wurde, wird man ihren Lebensbezug leichter begreifen. Die vorgetragenen Offenbarungssegmente, die ursprünglich als Buch im geläufigen Sinne nicht konzipiert worden sind, wurden von der ersten Gemeinde der Gläubigen wortgetreu aufgenommen und verzeichnet. Das ist nun der Koran, zu deutsch: die Lesung, das Nachgesprochene. Folglich ist dieses Buch in mancher Hinsicht ein Zeitdokument.

Der Islam definiert sich als Lebens- und Leidensbewältigung im Zeichen der Hingabe an Gott. Er sollte für den Gläubigen eine ständige Aufgabe sein. Ein Irrtum ist es, diese Religion mit der Scharia gleichzusetzen. Die Scharia ist die Gesamtheit der islamischen Lebensregeln. Sie ist zu 80 Prozent eine Ableitung aus dem Koran und der Sunna. Somit gehört sie zum Überbau des Islam und ist hauptsächlich von den Rechtsgelehrten geschaffen.

Buchstabengläubigkeit

Der strafrechtliche Teil der Scharia wurde nie vollständig angewendet. Das hat auch mit dem orientalischen Rechtsverständnis zu tun, wo es am Herrscher liegt, zu bestimmen, was an Rechtsbestimmungen durchzuführen, und was zu unterlassen ist. ... Der Rigorismus dieser Praxis ist gewöhnlich in der Buchstabengläubigkeit begründet. Die Bildung der Scharia war im 10. Jahrhundert abgeschlossen. Es ist natürlich, daß sich in ihr viele alte Rechtsvorstellungen eingefunden haben. Manche gehen auf jüdisches und urchristliches Rechtsdenken zurück, etwa das minutiös ausgearbeitete Sklavenrecht. Ferner gehören dazu die Bestrafung der Ehebrecherin mit Steinigung, Todesstrafe für den Abfall vom Islam..., der degradierte, wenn auch durchaus gesetzlich geschützte, Personenstand der Juden und Christen in einem islamischen Staat, wo sie die Klasse der "Schutzbefohlenen" bildeten, und das vermeintlich verpflichtende Kopftuch der Frauen in der Öffentlichkeit. Es ist aber nicht vorstellbar, daß heutzutage die Frau auf Dauer von allen Lebensläufen abgeschnitten werden kann.[...]

Die Fundamentalisten im Islam sind atypisch für den historischen Islam. Die Leute, die sich selbst Islamisten nennen, stehen unter dem Verdacht, über den Islam hinaus einem zusätzlichen gedanklichen Überbau verpflichtet zu sein. Ihre Sonderart ist es, die Religion zu politischen Zwecken zu instrumentalisieren. Sie vernachlässigen das Jenseits und somit auch die Religion (din) zugunsten der Innerweltlichkeit (dunya). Somit verlassen sie in ihren Handlungen zwangsweise den gebotenen rechten Weg. [...]

Eine gewaltige Wende ist fällig. Mir scheint, daß der Islam von Haus aus den Menschenrechten nahe stand, obwohl er sie freilich nicht in Einzelheiten kannte. Aber wem war es schon vor der Aufklärung beschieden, sich dieser Rechte bewußt zu werden?

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