NAFTA und sein mexikanischer Patient

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Die USA wollen eine Neuverhandlung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens. Dabei haben amerikanische Unternehmen bis heute massiv vom Entfall der Zollgrenzen profitiert. Mexiko hat allerdings nicht Jobs gewonnen, sondern verloren, meinen Experten.

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Die USA wollen eine Neuverhandlung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens. Dabei haben amerikanische Unternehmen bis heute massiv vom Entfall der Zollgrenzen profitiert. Mexiko hat allerdings nicht Jobs gewonnen, sondern verloren, meinen Experten.

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Am 1. Jänner 1994 besetzten Aufständische mit seltsamen schwarzen Sturmhauben mehrere Plätze in der südmexikanischen Stadt San Cristóbal de las Casas und anderen wichtigen Städten des Bundesstaates Chiapas. Die Maskierten, die sich als Mitglieder der bis dahin unbekannten Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) zu erkennen gaben, hatten den Zeitpunkt für ihr erstes Auftreten strategisch gewählt. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) - in Mexiko spricht man von TLCAN, das an jenem Tag in Kraft trat, sei ein Unglück für das Land, wie Subcomandante Marcos, der Anführer der unblutigen Befreiungsbewegung, prophezeite.

23 Jahre später ist auch US-Präsident Donald Trump dieser Meinung. Allerdings aus anderen Gründen. NAFTA beseitigte Zollschranken für fast alle Produkte, die zwischen den drei Partnerländern Mexiko, USA und Kanada gehandelt wurden. Besonderes Augenmerk wurde der Landwirtschaft, der Textilindustrie und dem Automobilsektor zuteil.

"Güter statt Menschen"

Aber es ging auch um die Migration. Mexiko würde fortan "Güter, nicht Menschen" exportieren, so Präsident Carlos Salinas de Gortari. Das erwartete man sich auch in den USA, wo jährlich 350.000 Menschen großteils illegal aus dem Süden einsickerten. Da das Pro-Kopf-Einkommen in Mexiko nur 30 Prozent des Niveaus der USA erreichte, versprach man sich die schrittweise Angleichung der Löhne. Alle würden gewinnen.

Und heute? Ökonomen sind sich weitgehend einig, dass NAFTA 20 Jahre lang die Wirtschaft zwischen den drei Partnern belebt hat. Bis 2016 erhöhte sich der Warenaustausch von 290 Milliarden US-Dollar auf 1,1 Billionen. Direktinvestitionen der USA in Mexiko stiegen von 15 Milliarden auf mehr als 100 Milliarden US-Dollar. Trotzdem könne man nach mehr als zwei Jahrzehnten guten Gewissens konstatieren, dass das Gegenteil der Erwartungen eingetreten sei, so Kevin P. Gallagher, Professor für Entwicklungspolitik an der Boston University. Die Wirtschaft Mexikos stagniert, mehr Menschen als je zuvor suchen ihr Glück in der Emigration.

Erfolgreicher Start

Dabei hatte alles äußerst vielversprechend begonnen. Mexiko erlebte tatsächlich zunächst einen Exportboom und stark steigende Auslandsinvestitionen. "Kein Land wird jemals mehr so vorteilhafte Wachstumsbedingungen auf der Grundlage eines Handelsabkommens haben", so Gallagher. Trotzdem stehe Mexiko heute als Warnung für jedes Entwicklungsland, das sich der Hoffnung hingibt, Handel und Auslandsinvestitionen führten automatisch zu Wachstum und Entwicklung.

Multinationale Konzerne mit Sitz in den USA übernahmen zwar mexikanische Fabriken und gründeten Niederlassungen in Mexiko. So verdreifachten sich die Direktinvestitionen zwischen 1992 und 2006. Doch das bedeutete nicht Reichtum und Jobs für die Mexikaner selbst.

Das jährliche Pro-Kopf-Wachstum der mexikanischen Wirtschaft erreichte zwischen 1992 und 2007 nur 1,6 Prozent. Auch gemessen an der eigenen Geschichte ist das niedrig: Zwischen 1960 und 1979 lag das reale Pro-Kopf-Wachstum bei durchschnittlich 3,5 Prozent. Länder mit einer weniger orthodoxen Handelsund Entwicklungspolitik -Indien, Brasilien, China -haben im Vergleichszeitraum viel höhere Wachstumsraten verzeichnen können als Mexiko.

Verteidiger des Freihandelsabkommens verweisen gerne darauf, dass die Fertigungsindustrie boomte. Allerdings bei Weitem nicht in dem Maße, das notwendig gewesen wäre, um die Arbeitskräfte zu absorbieren.

Am härtesten getroffen wurde aber die mexikanische Landwirtschaft. Mit den Kampfpreisen der subventionierten industriellen Landwirtschaft der USA - vor allem Getreide und Fleisch - konnten die Kleinbauern im Süden nicht konkurrieren. Von den ursprünglich drei Millionen Maisbauern waren die allermeisten Kleinbauern, denen keine Alternativen offen standen. Das Center for Economic and Policy Research (CEPR) in Washington spricht in einer Studie von mehr als zwei Millionen vernichteten Jobs im Agrarsektor. Das ist das Vierfache der Arbeitsplätze, die gleichzeitig in der Industrie entstanden.

Schiefe Bilanzen

Mexiko bezieht heute fast die Hälfte seines Getreides aus den USA. Lagen Maisimporte vor NAFTA bei nur sieben Prozent des Bedarfs, so mussten zuletzt 34 Prozent dieses Grundnahrungsmittels importiert werden.

Das belastet die Devisenbilanz des Landes und untergräbt die Nahrungssicherheit. Die Wirtschaftszeitung El Financiero schreibt, die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten insgesamt sei von zehn auf 43 Prozent angestiegen.

Gleichzeitig beobachte man einen dramatischen Anstieg von Fettleibigkeit durch die veränderten Ernährungsgewohnheiten. Die Verdreifachung der Agrarexporte in die USA könnte suggerieren, dass heute mehr Nahrungsmittel erzeugt werden. Doch die ist wenig arbeitsintensiven Monokulturen zu verdanken, die nicht für den Inlandskonsum bestimmt sind. Die Saatgutriesen Cargill und Monsanto eröffneten sich damit neue Märkte.

Neben den Kleinbauern hielten auch viele kleine und mittlere Betriebe dem Konkurrenzdruck aus den USA nicht stand. Die Folge war eine explosionsartige Vergrößerung des informellen Sektors, einschließlich illegaler Geschäfte wie Drogenhandel.

Würde Donald Trump NAFTA für die USA aufkündigen, und das kann er, wenn der Kongress mitspielt, dann wären die Folgen für Mexiko katastrophal. Enrique Dussel Peters, Professor für Ökonomie an der Autonomen Universität von Mexiko: "Seit 1989 ist Mexiko eines der erfolgreichsten Vorbilder einer an Exporten ausgerichteten Entwicklung gewesen. Der Automobilsektor ist das beste Beispiel dieses Strukturwandels. 80 Prozent der Produktion von Autoteilen und Autos in Mexiko gehen in den Export und zwar fast komplett in die USA. Ist ein Automobilsektor ohne Export in die USA denkbar? Nein. 80 Prozent sind dann überflüssig. In der Elektronikbranche, in einem Dutzend anderer Sektoren, ist Mexiko eine Exportplattform. Da ist nichts für den internen Konsum bestimmt."

Die engere wirtschaftliche Anbindung an die Vereinigten Staaten hat Mexiko auch anfälliger als seine südlichen Nachbarn für ein Überschwappen der US-amerikanischen Finanz- und Wirtschaftskrisen gemacht. Das zeigte sich im Gefolge der Lehman-Pleite 2008, die eine weltweite Krise auslöste. Mexikos Wirtschaft schrumpfte 2009 um sechs Prozent, mehr als anderswo in Lateinamerika. Jetzt hat sogar die Weltbank dem Land empfohlen, seine Wirtschaft auf eine breitere Basis zu stellen, um weniger von den USA abhängig zu sein.

Politik ohne Klarheit

Präsident Enrique Peña Nieto hat angesichts der Trump'schen Drohungen einen nationalen Schulterschluss zur Verteidigung von NAFTA gefordert. Ein Verlangen, das auf höhnische Proteste stößt. Denn die Millionen Verlierer des Abkommens sehen nicht ein, warum sie die Interessen der mexikanischen Wirtschaftselite verteidigen sollten. Anders als in den USA ist seit NAFTA sogar der Realwert der mexikanischen Löhne um ein Viertel gesunken.

Der Erfolg von NAFTA bleibt also Ansichtssache. Da auch deshalb weil Mexiko keine einzige öffentliche Evaluierung des Handelsabkommens vorgenommen hat. Enrique Dussel: "Es gibt keine Diskussion, kein Dokument, wo jemand sagen könnte, das ist die Haltung der mexikanischen Regierung. Heute weiß Mexiko nicht, das meine ich ganz ernst, was das Land vor 23 Jahren verhandelt hat. Es gibt keine Klarheit: Was sollte verhandelt werden? Was hat gut funktioniert, was nicht? Welche Sektoren haben profitiert, welche verschwanden? Welche Regionen profitierten? Die Position bei Verhandlungen wird daher zu 100 Prozent defensiv sein".

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