"Nicht alles zur Gitarre singen"

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Bertolt Brechts Psalmen übernehmen Elemente ihrer biblischen Vorbilder, ihre Wertvorstellungen scheinen aber jenen der Bibel, der Kirche und der bürgerlichen Gesellschaft diametral gegenüber zu stehen.

Ich muß noch einmal Psalmen schreiben. Das Reimen hält zu sehr auf. Man muß nicht alles zur Gitarre singen können!" schreibt Bertolt Brecht am 31. August 1920 in sein Tagebuch. Im selben Jahr entstehen die meisten seiner als Psalmen betitelten Prosagedichte, ein Versuch, den er später nicht mehr aufnimmt. Was Brecht an den Psalmen fasziniert, ist zunächst ihre formale Gestalt, sie unterscheiden sich wesentlich von den traditionellen Lyrikformen, bieten aber auch einen Anhaltspunkt, der nicht den modernen Strömungen zu Beginn des Jahrhunderts verpflichtet ist.

Die Jahre um 1920 stellen für Brecht eine Übergangszeit dar, zum einen ist es die Zeit der Neuorientierung nach dem Ersten Weltkrieg, zum anderen die Zeit seiner Loslösung von Augsburg, seiner Heimatstadt. Eintragungen im Tagebuch belegen eine innere Unruhe, ein Suchen und Experimentieren: "Mitunter überfällt es mich, dass meine Arbeiten vielleicht zu primitiv und altmodisch seien, oder plump oder zu wenig kühn. Ich suche herum nach neuen Formen und experimentiere mit meinem Gefühl wie die Jüngsten. Aber dann komme ich doch wieder drauf, dass das Wesen der Kunst Einfachheit, Größe und Empfindung ist und das Wesen ihrer Form Kühle. Das ist mangelhaft ausgedrückt, ich weiß es."

Biblische Vorbilder

Jene Gedichte, die Brecht als Psalm betitelt, übernehmen verschiedene Elemente ihrer biblischen Vorbilder, sie lassen sich jedoch nicht in das traditionelle Bild religiöser Dichtung einordnen, vielmehr scheinen die ihnen zugrunde liegenden Wertvorstellungen jenen der biblischen Bücher, der Kirche und der bürgerlichen Gesellschaft diametral gegenüberzustehen. Dieser Widerspruch hat immer wieder die Frage aufgeworfen, wie stehen die Brecht'schen Psalmen zu den biblischen Psalmen?

Die Psalmgedichte Brechts greifen unterschiedlich intensiv auf die biblischen Psalmen zurück. Vor allem die emotional aufgeladene, emphatische Sprache der Gedichte erinnert an die Psalmen. Wie diese greifen die Psalmgedichte Brechts häufig auf drastische sprachliche Bilder zurück und scheuen sich nicht zu provozieren. Den auffallendsten Unterschied zwischen den Psalmgedichten Brechts und biblischen Psalmen bildet die Kommunikationsstruktur. Während in den biblischen Psalmen bis auf wenige Ausnahmen Gott als Adressat angesprochen wird, sind die Psalmgedichte Brechts Monologe, die an eine unbestimmte Zuhörerschaft gerichtet sind. Dadurch verschwindet auch das aus den Psalmen vertraute Nebeneinander von Lob und Klage, von Bitte und Dank, Verzweiflung und Rettung.

Im Hinblick auf inhaltliche Elemente stehen jene Psalmen Brechts, die das Motiv der Bedrohung entfalten, den biblischen Psalmen besonders nahe. Es werden nicht nur zahlreiche Motive der biblischen Psalmen aufgenommen, auch Teile der biblischen Argumentationsstruktur finden sich in den Gedichten Brechts wieder. Die geschilderte Bedrohung richtet sich auf das Leben des lyrischen Ichs, sei es, dass Rechenschaft über dessen Leben gefordert wird, die Sehnsüchte und Bedürfnisse des Lebens nicht erfüllt werden, das Leben im Wahnsinn zu entgleiten oder in der Einsamkeit sich zu verlieren droht.

Vision in Weiss

Ein anschauliches Beispiel dafür ist das Gedicht "Vision in Weiss, 1. Psalm".

Nachts erwache ich schweißgebadet am Husten, der mir den Hals einschnürt. Meine Kammer ist zu eng. Sie ist voll von Erzengeln.

Die Ängste werden in der Nacht übermächtig (Ps 6,7), die Bedrängnis ist nicht nur in der Vorstellungswelt, sie ist körperlich spürbar. Die beengende Situation wird noch unterstrichen durch die Erwähnung der Erzengel. Welche Rolle diese göttlichen Boten hier einnehmen - ob als Richter, als Feinde oder als Beistand - ist an dieser Stelle noch unklar.

Ich weiß es: ich habe zuviel geliebt. Ich habe zuviel Leiber gefüllt, zuviel orangene Himmel verbraucht. Ich soll ausgerottet werden.

Die Gefahr und deren Ursache, die eigene Schuld, sind bekannt. Auffallend ist jedoch die Direktheit, mit der die Bedrohung in einem freien Zitat formuliert wird: "soll ausgerottet werden". Das lyrische Ich zieht sofort die drastischste aller Sanktionen für sich in Betracht. Zahlreiche Psalmstellen sprechen davon, dass die Frevler und Gottlosen ausgerottet werden sollen. Wenn hier das lyrische Ich diese Formel aufgreift, wird die Perspektive erstmals in Frage gestellt. Ist es die Sicht der "ungerecht Verfolgten" der biblischen Psalmen, aus der gesprochen wird, oder ist es ein Gedankengang der Frevler?

Die weißen Leiber, die weichsten davon, haben meine Wärme gestohlen, sie gingen dick von mir. Jetzt friere ich. Man deckt mich mit vielen Betten zu, ich ersticke.

Die Beschreibung der dritten Strophe knüpft erneut an die Notsituation an. Das lyrische Ich wird dabei jedoch nicht nur als Täter sondern auch als Opfer dargestellt, wodurch die Schuldfrage nicht mehr eindeutig entscheidbar ist. Die Schilderung der Kälte enthält noch eine weitere biblische Anspielung, nämlich an David. Sie erinnert zuerst an David als Mann mit zahlreichen Frauen und Nebenfrauen, der an seinem Lebensende nicht mehr warm werden konnte, nicht einmal bei der schönen Abischag (1Kön 1,1-4). Darüber hinaus wird eine Verbindung zwischen dem Sprecher im Gedicht und David, dem Psalmsänger par excellence, angedeutet. Versteht das lyrische Ich seine Situation wie die des biblischen Königs David?

Ich argwöhne: Man wird mich mit Weihrauch ausräuchern wollen. Meine Kammer ist überschwemmt mit Weihwasser. Sie sagen: ich habe die Weihwassersucht. Das ist dann tödlich.

Die bevorstehende Gefahr wird noch einmal im Detail umschrieben. Die Ironie dieser Strophe ist bedingt durch die Wortspiele: ausräuchern - Weihrauch, die Verbindung einer drastischen Vernichtungsmaßnahme mit Weihrauch, dem Duft, der Gott dargebracht wird, und mit der Kontamination Weih-Wassersucht, der Verknüpfung einer Krankheit mit einem religiösen Symbol für Reinigung und Schutz. Die Verwendung dieser Wortspiele fügt sich auch in das Bild einer Vision, in der vieles übersteigert wahrgenommen wird, Wirklichkeitsbereiche sich überschneiden und zu neuen, ungewöhnlichen Kombinationen führen. Erneut stellt sich in dieser Strophe die Frage nach der Perspektive des lyrischen Ichs. Würde die Angst davor, mit Weihrauch ausgeräuchert zu werden, für eine Perspektive der Frevler sprechen, so verweist die Weihwassersucht eher auf ein übertrieben frommes Bewusstsein, das sich der religiösen Symbole im Übermaß bedient.

Meine Geliebten bringen ein bißchen Kalk mit, in den Händen, die ich geküßt habe. Es wird die Rechnung präsentiert über die orangenen Himmel, die Leiber und das andere. Ich kann nicht bezahlen.

Die Abrechnung, die nicht bezahlt werden kann, weist ebenso biblische Anklänge auf; in Ps 38,5 klagt der Beter: "... denn meine Sünden gehen über mein Haupt; wie eine schwere Last sind sie mir zu schwer geworden", und ebenso klingt das Motiv der ungerecht präsentierten Abrechnung an.

Lieber sterbe ich. - Ich lehne mich zurück. Ich schließe die Augen. Die Erzengel klatschen.

Das lyrische Ich will sich am Ende dieser Vision nicht länger stellen, die Vorstellung der Abrechnung erscheint so bedrohlich, dass der Tod eine willkommene Alternative ist. Damit bleibt die Vision zweideutig: Lehnt das lyrische Ich die Verantwortung ab und entzieht sich der Vision wie einem Alptraum? Diese Deutung fordert dann eine Interpretation des Beifalls der Erzengel in dem Sinn, dass sie die Entscheidung für gut befinden. Eine andere Deutung erlaubt die Resignation als Einwilligung zu verstehen, als Bereitschaft zu sterben, und die Erzengel, diesmal auf Seiten der Ankläger, heißen das erreichte Ziel, die Vernichtung des Frevlers, für gut.

Dieses Psalmgedicht zeigt, wie Bertolt Brecht auf biblische Psalmen zurückgreift und aus ihnen und im Dialog mit den biblischen Bildern seine Gedichte bildet. Die kommunikative Dimension der biblischen Psalmen jedoch, dass ein Gegenüber angesprochen, um Hilfe angerufen wird, fehlt dem Gedicht völlig. Das Psalmgedicht bietet keine Hoffnungsperspektive an, die Vorstellung eines rettenden Eingreifens Gottes kommt nicht in den Blick. Es bleiben nur die Angst und die Bedrohung, die allerdings ironisch gebrochen sind.

Antireligiöse Attacken?

Die Spannung zwischen traditionellen Erwartungen an religiöse Gedichte und den Psalmgedichten Brechts führte immer wieder zu Attributen wie "antireligiöse Attacken" (Edgar Schuhmann) oder "schockierender Missklang" (Klaus Marsch).

Die Ursache für diesen so unüberwindbar empfundenen Gegensatz liegt jedoch nicht nur in den Gedichten sondern auch am Psalmverständnis. Für einen Vergleich mit den Gedichten Brechts werden die biblischen Psalmen oft als religiöse Dichtung "verharmlost".

Bei genauer Betrachtung sind es jedoch besonders die aufrüttelnde Sprache und der klar umrissene eigene Standpunkt, mit denen Brechts Gedichte an ihre biblischen Vorbilder anknüpfen. Sie stellen sich in diese Tradition, die mit Nachdruck und Überzeugung die eigene Weltanschauung formuliert.

Die Autorin ist Universitätsprofessorin für das Fach Biblische Theologie in der Philosophischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen.

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