Nicht mehr als ein Tropfen im Ozean

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Der Sarg mit der kleinen albanischen Nonne wurde auf derselben Lafette transportiert, die auch Mahatma Gandhi für den letzten Weg gedient hatte. Die indische Regierung gab Mutter Teresa ein Staatsbegräbnis -eine außergewöhnliche Ehre, die der Orden im Namen von Mutter Teresa vergeblich im Vorfeld abgelehnt hatte. An den Trauerfeierlichkeiten in Kolkata am 13. September vor 17 Jahren nahmen rund 20.000 geladene Gäste teil. Es war ein Promi-Begräbnis, ein Begräbnis für eine Friedensnobelpreisträgerin, für eine unermüdlich Helfende, die 2003, nur sechs Jahre nach ihrem Tod, selig gesprochen wurde.

Die Armen allerdings waren von dem letzten Abschied ausgeschlossen, die Eliten wollten unter sich bleiben, um den "Engel der Armen" zu würdigen, eine Ikone der Nächstenliebe, die man getrost und folgenlos feiern konnte. Als Ikone der Nächstenliebe erscheint Mutter Teresa auch in nahezu allen Bildern: eine alte Frau, mit durchfurchtem Gesicht unter dem weißen, blauumrandeten Sari, lächelnd, mit offenen Armen oder die Hände zum Gebet gefaltet.

Begonnen hat alles im September 1946. Mutter Teresa lebte seit Anfang der 1930er Jahre in Indien, damals eine britische Kronkolonie, und unterrichtete an einer Mädchenschule in Kolkata, damals Kalkutta. Im August 1946 kam es in der Stadt zu Massakern zwischen Hindus und Muslimen. Innerhalb einer Woche kamen damals rund 10 000 Menschen um und hunderttausende verloren ihr Zuhause. Ein Monat später fuhr Mutter Teresa in die Berge zu Exerzitien. Auf dieser Zugreise ereilte sie der Ruf, "alles aufzugeben und Ihm in diesen Slums zu folgen -um ihm in den Ärmsten der Armen zu dienen." Mit größter Beharrlichkeit verfolgte sie dieses Projekt und hatte bereits 1949 ein eigenes Haus. Indien wurde 1947 unabhängig, der Subkontinent in das mehrheitlich muslimische Pakistan und das mehrheitlich hinduistische Indien geteilt.

Kalkutta war voll Flüchtlingen aus Ostbengalen, dem heutigen Bangladesch, damals zu Pakistan gehörend. "Wir fanden so viele Leute, die auf der Straße starben, da sie im Spital nicht aufgenommen wurden; oder sie wurden aufgenommen und starben am nächsten Tag", erzählte Schwester Gertrud, Mutter Teresas ehemalige Schülerin und Mitschwester, in einem Interview. Damals entstand das Projekt eines Sterbehauses. 1952 erhielt Mutter Teresa durch gute Kontakte zur Stadtverwaltung von Kolkata gleich neben dem bedeutenden Kali-Tempel ein ehemaliges Pilgerheim dafür.

Ein politisch zeitgemäßes Projekt

Auch wenn immer nur von der Vision Mutter Teresas die Rede ist -ihre Gründung, ein indischer Orden, der deutlich mit dem europäischen kolonialen Lebensstil bricht, war ein politisch sehr zeitgemäßes Projekt. Ihr Projekt war zudem nicht sozialkritisch, sondern ausschließlich spirituell motiviert. Für Mutter Teresa waren das Sterben und der Moment des Todes entscheidend. "Und alle sterben mit einem schönen Lächeln auf ihrem Gesicht, geliebt und umsorgt. Ich kann das Leiden nicht verhindern, aber ich kann da sein, um sie zu berühren und zu umsorgen", sagte sie in einem ORF-TV-Interview 1987.

Bereits 1962 verlieh ihr der indische Staat den "Padmashree", den höchsten indischen zivilen Orden. International berühmt machte sie Anfang der 1970er Jahre Malcolm Muggeridge, mit Buch und gleichnamigen Film "Something beautiful for God". Muggeridge war ein überzeugter Ex-Kommunist, der offensichtlich gute Kontakte zum CIA hatte. Kommunismus war mitten im Kalten Krieg ein Reizwort. In den USA und in Europa protestierte die Jugend gegen den Kapitalismus, in Lateinamerika herrschten Diktatoren mit brutaler Gewalt und Christen gingen als Kommunisten ins Gefängnis. "Wenn man den Armen Brot gibt, sagen die Leute, man ist ein Heiliger. Wenn man fragt, warum sie arm sind, heißt es, man ist ein Kommunist", stellte Dom Hélder Câmara, 1964-85 Erzbischof von Recife (Brasilien) und Vater der Befreiungstheologie, damals fest. Mutter Teresa wählt die erste Option sie steht für Nächstenliebe ohne Fragen nach den strukturellen Sünden, der strukturellen Gewalt, die Menschen arm macht.

Das macht sie zu einer bequemen spirituellen Gestalt, und so ist es kein Wunder, dass mittlerweile Reiseführer einen Kurzaufenthalt als freiwillige Helfer in den Niederlassungen von Mutter Teresa als eine der Attraktionen der 16 -Millionenstadt Kolkata empfehlen. Freilich hat Mutter Teresa mit ihren Gründungen sehr vielen Menschen unmittelbar geholfen. Heute arbeiten mehr als 4500 Schwestern in 133 Ländern, der Orden unterhält 710 Häuser, u.a. Heime für Sterbende, Lepra-oder Aidskranke, für Obdachlose und Kinder. Die Finanzgebarung des Ordens ist jedoch höchst undurchsichtig, und es ist unklar, wo die Spenden in Millionenhöhe hingegangen sind, wie eine Studie von 2013 feststellt. In diesem Zusammenhang wird immer wieder der Vorwurf laut, dass die medizinische Versorgung in den Einrichtungen des Ordens trotz ausreichender Mittel unzureichend sei, usw. Auch hat Mutter Teresa weder das Kastenwesen in Indien noch die daraus resultierende soziale Gewalt noch soziale Ungleichheit im Allgemeinen je kritisiert.

Festschreibung vs. Befreiung von Strukturen

Almosen und Diskriminierung vertragen sich überall gut. Bei einem Besuch in Kolkata (2010) kam ich mittags zum "Nirmal Hriday", dem "Haus des Unbefleckten Herzens" neben dem Kali-Tempel. Rund 30 ältere Frauen und Männer, gezeichnet von Armut und Hunger, warteten auf die tägliche Essensausgabe. Ein Kleinbus fuhr vor, mit dem Namen des Spenders auf einem Schild hinter der Scheibe. Jemand aus den obersten Kasten war für die Plastikbeutel mit Reis und Linsen aufgekommen. Die Busbesatzung öffnete die Fenster einen Spalt weit, und ohne die Leute zu berühren, reichen sie die Säckchen hinaus. Berührung zwischen oberen und unteren Kasten ist für Hindus religiös tabu. Rasch entstand ein Gedränge, ein kleines Handgemenge, eine alte Frau stürzte, die anderen drängten über sie drüber. Da waren die Reis-und-Dal-Pakete schon aus, der Fensterspalt ging zu, das Auto fuhr wieder ab.

Es scheint, dass Mutter Teresas Gründungs-Vision, ihr Wunsch, dem "dürstenden Jesus am Kreuz" zu Hilfe zu kommen, am Ende zur Festschreibung von Strukturen von Leiden und Armut führt statt zu einer befreienden Auferstehung.

Doch Mutter Teresa war auch ein inspirierendes Vorbild -für Westler, die ihren Beruf aufgaben, um in Indien zu helfen. Für viele Hindus war sie eine Heilige. 1992 war Mutter Teresa in Chennai, und mit Glück bekam ich einen Kürzest-Termin -abends nach 22 Uhr, in dem Haus der Schwestern im Hafenviertel. Vor der großen Blechtür stand ein hünenhafter Polizist, in der Hand einen Schlagstock und wollte uns zunächst nicht einlassen. Gegen 23 Uhr 30 kam Mutter Teresa dann -und der Hüne von Polizist warf sich danach voll Ehrerbietung der Länge nach auf den Boden vor der kleinen Ordensfrau und berührte ihre Füße.

Bei aller Ambivalenz, es stimmt, was Mutter Teresa sagte:

Was wir tun, ist nur ein Tropfen im Ozean. Aber wenn wir diesen Tropfen nicht in den Ozean bringen, dann ist ein Tropfen weniger im Ozean. Und deswegen ist dieser Tropfen wichtig.

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